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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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er »vorzüglich Kommers mache« — das heißt, Können und Geschicklichkeit eines Falschspielers zeige. Und er war auch ein Falschspieler, selbstverständlich; ehrliches Ganovenspiel ist ja Spiel auf Betrug: paß auf und überführ deinen Partner, das ist dein Recht, sieh zu, selbst zu betrügen, sieh zu, dich gegen einen zweifelhaften Gewinn zu verwahren.
    Es spielten immer zwei, Mann gegen Mann. Keiner der Meister erniedrigte sich durch die Teilnahme an Gruppenspielen wie Siebzehn und Vier. Gegen starke »Kommerzianten« anzutreten fürchteten sie nicht — auch im Schach sucht ein echter Kämpfer stets den stärkeren Gegner.
    Sewotschkas Partner war Naumow selbst, der Brigadier der Pferdetreiber. Er war älter als sein Partner (wie alt war übrigens Sewotschka, zwanzig? dreißig? vierzig?), ein schwarzhaariger Bursche mit einem solchen Dulderausdruck in den tiefliegenden Augen, daß ich ihn, hätte ich nicht gewußt, daß Naumow ein Eisenbahndieb aus dem Kubangebiet ist, für einen Wallfahrer gehalten hätte — einen Mönch oder ein Mitglied der Sekte »Gott weiß es« , einer gewissen Sekte, die nun schon einige Jahrzehnte in unseren Lagern anzutreffen ist. Dieser Eindruck verstärkte sich beim Anblick der Schnur mit Zinnkreuzchen, die um Naumows Hals hing — sein Hemdkragen stand offen. Dieses Kreuzchen war keineswegs ein lästerlicher Scherz, eine Grille oder Improvisation. Zu jener Zeit trugen alle Ganoven Aluminiumkreuzchen um den Hals — das war ein Erkennungszeichen des Ordens, wie eine Tätowierung.
    In den zwanziger Jahren trugen die Ganoven Ingenieursmützen, noch früher Kapitänsmützen. In den vierziger Jahren trugen sie im Winter
kubanki
und krempelten die Schäfte der Filzstiefel um, und um den Hals trugen sie ein Kreuz. Das Kreuz war gewöhnlich glatt, doch wenn Künstler da waren, zwang man sie, beliebte Motive darauf einzuritzen: ein Herz, eine Spielkarte, ein Kreuz, eine nackte Frau... Naumows Kreuz war glatt. Es hing auf Naumows dunkler nackter Brust und störte beim Lesen der blauen Tätowierung — einem Vers von Jessenin, dem einzigen von der Verbrecherwelt anerkannten und kanonisierten Dichter:
    Wie wenig Weg zurückgelegt;
    Und wieviel Fehler schon begangen.
    »Was setzt du?«, murmelte Sewotschka mit unendlicher Verachtung zischen den Zähnen: auch das galt als guter Ton bei Spielanfang.
    »Die Klamotten hier. Diese Kluft...« Und Naumow klopfte sich auf die Schultern.
    »Ich setze fünfhundert«, veranschlagte Sewotschka den Anzug.
    Als Antwort ertönte ein wortreiches Geschimpfe, das den Gegner vom erheblich höheren Wert des Stücks überzeugen sollte. Die die Spieler umringenden Zuschauer erwarteten geduldig das Ende dieser traditionellen Ouvertüre. Sewotschka blieb nichts schuldig und schimpfte noch giftiger, um den Preis zu drücken. Schließlich wurde der Anzug mit tausend veranschlagt. Sewotschka seinerseits setzte ein paar getragene Pullover. Nachdem die Pullover veranschlagt und sofort auf die Decke geworfen waren, mischte Sewotschka die Karten.
    Garkunow, ein ehemaliger Textilingenieur, und ich sägten für Naumows Baracke Holz. Das war Nachtarbeit — nach unserem Arbeitstag in der Mine mußten wir Holz für vierundzwanzig Stunden sägen und hacken. Gleich nach dem Abendessen verschwanden wir bei den Pferdetreibern — hier war es wärmer als in unserer Baracke. Nach der Arbeit goß uns Naumows Barackendienst kalte »Brühe« in unser Kochgeschirr — den Rest des einzigen, des Stammgerichts, das in der Kantine »ukrainische Mehlklößchen« hieß, und gab uns jedem ein Stück Brot. Wir setzten uns irgendwo in der Ecke auf den Boden und vertilgten das Verdiente schnell. Wir aßen in völliger Dunkelheit — die Barackenfunzeln beleuchteten das Kartenfeld, doch der Löffel, so die treffende Beobachtung erfahrener Gefängnisinsassen, findet immer zum Mund. Jetzt sahen wir dem Spiel von Sewotschka und Naumow zu.
    Naumow hatte seine »Kluft« verspielt. Hose und Jackett lagen neben Sewotschka auf der Decke. Jetzt wurde um das Kissen gespielt. Sewotschkas Fingernagel zeichnete in der Luft komplizierte Muster. Die Karten waren mal in seiner Hand verschwunden, mal tauchten sie wieder auf. Naumow saß im Unterhemd — der Satin-Russenkittel war den Hosen gefolgt. Dienstfertige Hände legten ihm eine Wattejacke um die Schultern, doch er warf sie mit einer schroffen Bewegung zu Boden. Plötzlich wurde alles still. Sewotschka kratzte gemächlich mit dem Nagel über das
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