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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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Mittagessen.«
    Heute und morgen wärmten sie sich am Ofen, und übermorgen ging der Frost gleich auf dreißig Grad zurück — der Winter ging schon zu Ende.
    1954

Die Einzelschicht
    Am Abend sagte der Aufseher, Dugajew bekomme am nächsten Tag eine Einzelschicht, und wickelte sein Bandmaß auf. Der Brigadier, der daneben stand und den Aufseher gebeten hatte, ihm »bis übermorgen ein Dutzend Kubikmeter« zu stunden, war plötzlich stumm und schaute zum Abendstern, der über der Bergkuppe aufblinkte. Baranow, Dugajews Partner, der dem Aufseher geholfen hatte, die geleistete Arbeit zu vermessen, nahm die Schaufel und kratzte die längst gesäuberte Grube aus.
    Dugajew war dreiundzwanzig, und alles, was er hier sah und hörte, verwunderte ihn mehr, als daß es ihn erschreckte.
    Die Brigade sammelte sich zum Appell, gab das Werkzeug ab und kehrte im ungeordneten Häftlingsverband in die Baracke zurück. Der schwere Tag war zu Ende. In der Kantine trank Dugajew im Stehen, gleich aus der Schüssel, seine Portion dünne kalte Graupensuppe. Das Brot wurde morgens für den ganzen Tag verteilt und war längst aufgegessen. Jetzt hätte er gern geraucht. Er sah sich um und überlegte, wen er um eine Kippe bitten konnte. Auf dem Fensterbrett häufelte Baranow aus dem umgedrehten Tabaksbeutel Machorkakrümel auf ein Stückchen Papier. Nachdem er sie sorgfältig gehäufelt hatte, drehte Baranow eine dünne Zigarette und hielt sie Dugajew hin.
    »Rauch und laß mir was übrig«, bot er an.
    Dugajew wunderte sich, Baranow und er waren nicht befreundet. Übrigens schließt man bei Hunger, Kälte und Schlaflosigkeit niemals Freundschaft, und trotz seiner Jugend spürte Dugajew die ganze Verlogenheit der Redensart von der Freundschaft, die sich in Unglück und Not bewährt. Damit Freundschaft zu Freundschaft wird, muß eine solide Basis dafür gelegt sein, bevor die Verhältnisse, das Leben jene letzte Grenze erreichen, jenseits deren im Menschen nichts Menschliches bleibt, nur noch Mißtrauen, Erbitterung und Lüge. Dugajew erinnerte sich gut an die Redensart aus dem Norden, die drei Häftlingsgebote: glaube nichts, fürchte nichts, bitte um nichts...
    Dugajew zog gierig den süßen Machorkarauch ein, und ihm wurde schwindlig.
    »Ich werde schwächer«, sagte er.
    Baranow antwortete nicht.
    Dugajew kehrte in die Baracke zurück, legte sich hin und schoß die Augen. In letzter Zeit schlief er schlecht, der Hunger ließ ihn nicht gut schlafen. Seine Träume waren besonders quälend — Brotlaibe, dampfende fette Suppen... Der Schlummer kam spät, doch eine halbe Stunde vor dem Wekken hatte Dugajew die Augen trotzdem schon geöffnet.
    Die Brigade erreichte ihren Einsatzort. Alle verteilten sich auf die Schürfgruben.
    »Warte du mal«, sagte der Brigadier zu Dugajew »Du wirst vom Aufseher eingeteilt.«
    Dugajew setzte sich auf den Boden. Er war schon so erschöpft, daß ihn jede Veränderung in seinem Schicksal vollkommen gleichgültig ließ.
    Die ersten Schubkarren schepperten auf dem Steg, die Schaufeln knirschten auf dem Stein.
    »Komm her«, sagte der Aufseher zu Dugajew »Hier ist dein Platz.« Er maß den Rauminhalt der Grube aus und legte ein Merkzeichen hin, ein Stück Quarz. »Bis hier«, sagte er. »Der Stegbauer verlegt dir ein Brett bis zum Hauptsteg. Dort karrst du hin, wie die anderen auch. Hier hast du Schaufel, Hacke, Brechstange, Schubkarre, leg los.«
    Dugajew begann fügsam mit der Arbeit.
    Um so besser, dachte er. Kein Kamerad wird schimpfen, daß er schlecht arbeitet. Die ehemaligen Ackerbauern müssen weder begreifen noch wissen, daß Dugajew Anfänger ist, daß er gleich von der Schule an die Universität gewechselt und die Universitätsbank gegen diese Grube eingetauscht hat. Jeder für sich allein. Sie müssen nicht, sind nicht verpflichtet zu begreifen, daß er längst schon ausgezehrt und halb verhungert ist und unfähig, zu stehlen: die Fähigkeit zu stehlen ist die wichtigste Tugend des Nordens, in allen Varianten, angefangen vom Brot des Kameraden bis hin zu den Tausenden Rubeln Prämien, die die Leitung einstreicht für nichtvorhandene, nichtexistente Erfolge. Niemanden geht es etwas an, daß Dugajew einen Sechzehnstundentag nicht durchhält.
    Dugajew karrte, hackte und kippte, und wieder: karrte, hackte, kippte.
    Nach der Mittagspause kam der Aufseher, warf einen Blick auf das von Dugajew Geschaffte und entfernte sich wortlos... Dugajew hackte und kippte wieder. Bis zur Quarzmarke war es noch sehr
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