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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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gibt, heißt das, es gibt etwas zu kochen«, sagte der Bergwerkschef tiefsinnig. »Das ist, ihr wißt, ein Zeichen von Wohlstand.«
    »Schau dir nur an, was sie kochen«, sagte Kowalenko und trampelte auf dem Geschirr herum.
    Die Chefs gingen, und wir suchten unser verbeultes Geschirr zusammen und sammelten jeder seins auf: ich die Pflaumen, Sinzow das aufgeweichte, formlose Brot und Gubarjew die Reste der Kohlblätter. Wir aßen sofort alles auf, das war das sicherste.
    Ich hatte ein paar Pflaumen verschlungen und schlief ein. Ich hatte längst gelernt, einzuschlafen, ehe die Füße warm werden, anfangs konnte ich das nicht, doch die Erfahrung, die Erfahrung... Der Schlaf war wie eine Bewußtlosigkeit.
    Das Leben kam zurück wie ein Traum — wieder öffnete sich die Tür: weiße Dampfschwaden, die sich über den Boden wälzten und über die ferne Wand der Baracke liefen, Leute in weißen Halbpelzen, die nach neu und ungetragen rochen, und etwas auf den Boden Krachendes, sich nicht Rührendes, aber Lebendiges und Grunzendes.
    Der Barackendienst, wie er sich in verdutzter, aber ehrerbietiger Pose vor den weißen Pelzmänteln der Brigadiere verneigt.
    »Gehört der zu euch?« Und der Aufseher zeigte auf ein Häufchen schmutziger Lumpen am Boden.
    »Das ist Jefremow«, sagte der Barackendienst.
    »Er wird sich unterstehen, fremdes Holz zu stehlen.«
    Viele Wochen lag Jefremow neben mir auf der Pritsche, bis sie ihn wegbrachten, und er starb in der Invalidensiedlung. Sie hatten sein »Innenleben« zerschlagen — an Meistern darin fehlte es nicht im Bergwerk. Er beklagte sich nicht, er lag da und stöhnte leise.
    1960

Regen
    Wir bohrten auf neuem Gelände den dritten Tag. Jeder hatte eine eigene Schürfgrube, und in drei Tagen war jeder einen halben Meter tief gekommen, mehr nicht. Den Dauerfrostboden hatte noch niemand erreicht, obwohl Brechstangen wie Hacken auf der Stelle instand gesetzt wurden — ein seltener Fall; die Schmiede hatten keinen Grund, es aufzuschieben — wir waren die einzige arbeitende Brigade. An allem war der Regen schuld. Es regnete den dritten Tag ohne Unterbrechung. Auf dem steinigen Grund läßt sich nicht erkennen — regnet es seit einer Stunde oder einem Monat. Kalter feiner Regen. Unsere Nachbarbrigaden waren längst von der Arbeit entlassen und nach Hause geführt worden, doch das waren Ganoven-Brigaden — selbst für Neid fehlte uns die Kraft.
    Der Vorarbeiter, in einem durchweichten riesigen Segeltuchmantel mit eckiger, pyramidenförmiger Kapuze, tauchte selten auf. Die Leitung setzte große Hoffnungen in den Regen, in die Knute des kalten Wassers, die auf unsere Rükken niederging. Wir waren längst naß, ich kann nicht sagen, bis aufs Hemd, denn wir besaßen kein Hemd. Das schlichte geheime Kalkül der Leitung war, daß uns Regen und Kälte zum Arbeiten zwingen würden. Doch der Haß auf die Arbeit war noch stärker, und der Vorarbeiter versenkte seinen gekerbten Holzmaßstab jeden Abend unter Verwünschungen in das Loch. Die Begleitposten bewachten uns unter einem Schutzdach hervor, dem »Pilz« — einem bekannten Detail der Lagerarchitektur.
    Wir durften nicht aus den Schürfgruben steigen — man hätte uns sonst erschossen. Zwischen den Gruben hin und her laufen durfte nur unser Brigadier. Wir durften uns nichts zurufen — man hätte uns sonst erschossen. Und wir standen stumm, bis zum Gürtel in der Erde, in den steinernen Gruben, eine lange Reihe von Schurfen entlang eines ausgetrockneten Bachbetts.
    Über Nacht bekamen wir unsere Steppjacken nicht trokken, die Blusen und Hosen trockneten wir nachts am eigenen Körper, und sie wurden fast trocken. Ausgehungert und erbittert, wußte ich doch, daß mich nichts auf der Welt veranlassen würde, mich umzubringen. Gerade damals erschloß sich mir auch das Wesen des großen Lebensinstinkts — eben jener Eigenschaft, die der Mensch in höchstem Grade besitzt. Ich sah, wie unsere Pferde von Kräften kamen und starben — ich kann es nicht anders ausdrücken, keine anderen Verben benutzen. Die Pferde unterschieden sich in nichts von den Menschen. Sie starben am Norden, an der die Kräfte übersteigenden Arbeit, der schlechten Kost und den Schlägen, und obwohl sie von all dem tausendmal weniger abbekamen als die Menschen, starben sie vor den Menschen. Und ich verstand das Wichtigste, daß der Mensch nicht darum zum Menschen geworden ist, weil er Gottes Geschöpf ist, und auch nicht, weil er an jeder Hand einen bemerkenswerten Daumen
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