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Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage
Autoren: Gunnar Kunz
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Verantwortung gezogen wurden, war künftiges Unheil vorgezeichnet. Lernte die willensschwache SPD-Regierung wieder nicht aus den Versäumnissen der Vergangenheit und ließ die republikfeindlichen Kräfte abermals ungeschoren, dann würde es irgendwann zu einem neuen Putsch kommen. Und der wäre mit Sicherheit besser vorbereitet.
    Die Militärkapelle begann, das Deutschlandlied zu spielen. Der Trupp setzte sich in Bewegung. Hendrik konnte es kaum glauben. Sie zogen tatsächlich ab! Sein Herz machte einen Sprung. Die Gesichter der Soldaten waren zumeist finster, weil sie das unrühmliche Ende des Putsches als Schmach empfanden. Es waren jedoch auch einige darunter, die erleichtert schienen, dass das fragwürdige Abenteuer vorüber war.
    Hendrik begleitete die Soldaten zum Pariser Platz. Die Zuschauermenge wurde trotz des Regens immer dichter. Höhnische Zurufe waren zu hören; Hendrik verfolgte es mit Besorgnis. „Wenna euch noch mal blicken lasst, werta uffjeknüppt!“, schrie ein rotgesichtiger Arbeiter, während die Brigade Ehrhardt zum Brandenburger Tor einschwenkte.
    Wo Soldaten und Zuschauer allzu dicht aneinandergerieten, kam es zu Handgreiflichkeiten. Auch unter den Zuschauern entstanden Schlägereien. Hier und da wurden schwarz-weiß-rote Fahnen geschwenkt, und einige Unverbesserliche riefen den Soldaten „Kommt wieder!“ zu.
    Vor dem „Hotel Adlon“ entdeckte Hendrik Ludwig Sebald, der sich mit mehreren Arbeitern stritt. Fäuste flogen. Sein Bruder stand nicht weit von ihm, zögerte aber einzugreifen.
    Dann sah Hendrik ein Gesicht mit Spitzbart, das sich an Leander heranmachte, und eine eisige Hand griff nach seinem Herzen. In der aufgebrachten Menge bot sich Pabsts Spitzel eine einzigartige Möglichkeit, unerkannt einen Mord zu begehen! „Vorsicht!“, schrie er, doch eine vorrückende Gruppe Arbeiter drängte ihn ab.
    Der Spitzel hatte ihn jedoch gehört. Er grinste herüber, verfolgte Hendriks vergebliche Bemühungen, sich aus dem Menschenknäuel herauszuwinden, und lüftete wieder seinen imaginären Hut.
    Inzwischen flogen die ersten Steine auf die Soldaten. Plötzlich fiel ein Schuss. Das Geräusch wirkte wie ein Dammbruch; die frustrierten Soldaten, deren Nerven ohnehin blank lagen, ergriffen ihre Gewehre und feuerten wahllos in die Menge. Für einen kurzen Moment hatte Hendrik freie Sicht auf den Spitzel, der seine Pistole zog, dann stürzte er im Gedränge zu Boden. Gegen den Strom der Menschen, die über ihn hinwegtrampelten, kämpfte Hendrik sich hoch. Er schrie wie von Sinnen, doch es ging in der allgemeinen Panik unter.
    Eine Art sechster Sinn musste Leander gewarnt haben, denn er drehte sich um. Wie gelähmt starrte er in das grinsende Gesicht des Spitzels, und diese Lähmung wurde ihm zum Verhängnis. Den Schuss konnte Hendrik nicht hören, er sah nur etwas Rotes, das sich auf Leanders Stirn um ein hässliches schwarzes Zentrum herum ausbreitete, ehe der Student wie vom Blitz gefällt zusammenbrach.
    Hendriks Augen und die des Mörders trafen sich. Der Spitzel entbot ihm einen kalten Gruß, während die Kugeln über ihre Köpfe hinwegpfiffen, und schloss sich den Fliehenden an. Hendrik wurde erneut zu Boden gestoßen.
    Ludwig, der durch seinen Kampf mit den Arbeitern von der Tragödie nichts mitbekommen hatte, sah sich nach seinem Bruder um. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, als er den leblosen Körper entdeckte. Er warf sich über ihn, um ihn vor den Tritten der Menge zu schützen, und schlug rücksichtslos nach allen Seiten.
    Kommandeure versuchten, ihre Männer zur Ordnung zu rufen, wurden aber in dem Durcheinander nicht gehört. Erst nach Minuten gelang es ihnen, die Truppendisziplin wieder herzustellen. Die Soldaten zogen weiter, als sei nichts geschehen.
    Tote und Verwundete lagen auf der Straße, Menschen schrien, die Gerüche von Pulverdampf und nassem Straßenbelag mischten sich. Hendrik kam auf die Beine und eilte zu den Sebalds. Mit einem Blick erkannte er, dass Leander nicht mehr zu helfen war. Man musste kein Arzt sein, um zu sehen, dass die Kugel seine Stirn zerschmettert hatte.
    Ludwigs Gesicht war verzerrt. Er schüttelte seinen Bruder, als könne er ihn dadurch wieder zum Leben erwecken. Hilflos stand Hendrik daneben. Sollte er den Schmerz des Studenten noch vergrößern? Aber die Wahrheit durfte nicht verschwiegen werden! „Es waren nicht die Soldaten“, sagte er. „Es war Pabsts Spitzel. Ich stand zu weit weg, um eingreifen zu können, aber ich habe es gesehen.
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