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Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage
Autoren: Gunnar Kunz
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Treppe zu erreichen.
    Als Hendrik das Namensschild las, wurde ihm klar, wie groß die Sache sein musste, an der sein Bruder arbeitete. Max Unger stand dort in goldenen Lettern. Max Unger, einer der führenden Industriellen Berlins!
    Hendrik entdeckte Edgar Ahrens, einen Mitarbeiter seines Bruders, der am Boden kniete und nach Fußspuren suchte oder was immer ein Kriminalbeamter im Vorgarten eines Tatorts zu finden hoffte. Edgars Gesicht hellte sich auf, als er ihn erkannte. „Guten Morgen, Professor!“ Er erhob sich, um ihm die Hand zu schütteln, und offenbarte dadurch seine Körperlänge. Obwohl man Hendrik kaum als Zwerg bezeichnen konnte, schaffte es der Kriminalbeamte mühelos, auf ihn herabzusehen. „Haben Sie gestern die Reden von Erzberger gelesen?“
    „Absurdes Theater! Hoffentlich ist der Prozess bald vorüber.“
    Entweder war Edgar beschäftigt oder er hatte den Auftrag, Hendrik sofort ins Haus zu schicken, denn obwohl er normalerweise einem Schwätzchen nicht abgeneigt war, deutete er bloß auf den angrenzenden Seitentrakt und sagte: „Ihr Bruder ist da vorn im Arbeitszimmer, durch die Tür und dann links.“
    Die Eingangstür des Nebengebäudes war nur angelehnt, daher trat Hendrik ein, ohne sich bemerkbar zu machen. Die Eingangshalle war wohl eigens zu dem Zweck entworfen, Besucher zu beeindrucken: holzgetäfelte Wände, kristallene Lüsterlampen, wertvolle Teppiche. Die ausgestopften Vögel und der obligatorische Sinnspruch (Edel sei der Mensch, hilfreich und gut) waren allerdings Geschmackssache. Ölgemälde präsentierten die Ahnenreihe der Ungers mit Max Unger an der Spitze. Auf einem Tisch lagen Bildermappen, die Fotografien aus der Werksgeschichte des Unger’schen Unternehmens enthielten, wie Hendrik sich durch Blättern überzeugte.
    Von ferne war Schluchzen zu vernehmen, und eine nicht zu verstehende männliche Stimme versuchte ungeschickt so etwas wie eine Beruhigung. Die Geräusche kamen aus dem Hauptgebäude, zu dem es rechter Hand eine Verbindungstür gab. Hendrik wandte sich jedoch nach links und ging über die dicken Teppiche, die jeden Schritt bis zur Unhörbarkeit dämpften, auf eine Mahagonitür zu.
    Dort stieß er mit Simon Weinstein zusammen, einem Beamten der Spurensicherung, der gerade ein Etui mit Büchsen und Pinseln zusammenpackte und gleichzeitig zwei Schutzmänner, die einen blutbesudelten Teppich trugen, durch den Türrahmen dirigierte. „Ah, guten Tag, Professor!“
    Simon Weinstein war klein und untersetzt. Wie er es schaffte, trotz Nahrungsmittelknappheit seinen Bauch zu halten, blieb innerhalb der Kriminalpolizei ein viel diskutiertes Rätsel. Seine Gründlichkeit, ja Pedanterie war ebenfalls im ganzen Polizeipräsidium bekannt und der Grund dafür, dass Hendriks Bruder Wert darauf legte, mit ihm zusammenzuarbeiten. In München wurden sämtliche Beamte der Polizei turnusmäßig zum Erkennungsdienst abkommandiert, die Spurensicherung war dort dem zuerst am Tatort eintreffenden Beamten überlassen. In Berlin verließ man sich lieber auf die Dresdener Methode: Nichts anrühren, bis der Spezialist kam.
    „Ich mache noch die Vergleichsfingerabdrücke der Familie und fahre dann ins Labor, du weißt ja, wo du mich findest!“, rief Simon nach drinnen, nickte Hendrik kurz zu und eilte zum Hauptgebäude.
    Der Professor betrat das Arbeitszimmer und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. „Mein Gott!“, entfuhr es ihm.
    Jemand hatte gewütet wie ein Metzger. Der ganze Raum war voller Blut, vor allem vor dem Schreibtisch, aber auch an den Wänden, auf dem Kaminsims, sogar im Papierkorb, einfach überall. Die Leiche selbst – denn dass es eine solche gegeben haben musste, stand nach Lage der Dinge außer Zweifel – war bereits abtransportiert worden, aber die Stelle, wo sie gelegen hatte, konnte anhand der Mengen vergossenen Blutes eindeutig identifiziert werden.
    „Wann besorgst du dir endlich ein eigenes Telefon?“, sagte eine Stimme, ehe deren Besitzer hinter dem Schreibtisch auftauchte. Typisch für seinen Bruder, ihn mit einem Vorwurf zu begrüßen!
    Gregor Lilienthal war 34, zwei Jahre älter als Hendrik. Wer ihn zum ersten Mal sah, dachte unwillkürlich an einen Asketen. Das lag an seiner hageren Gestalt und dem knochigen Körperbau, aber auch an dem strengen Gesichtsausdruck, den er nur selten ablegte. Außerdem bewegte er sich wie jemand, der drei Tage im Leichenschauhaus gelegen hatte, und sprach mit der Präzision eines Obduktionsbefundes. Nur seine
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