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Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage
Autoren: Gunnar Kunz
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traurigen Hundeaugen straften den hölzernen Eindruck Lügen.
    Hendrik ergriff die dargebotene Hand. „Ich denke darüber nach, sobald du dir angewöhnst, ein Gespräch mit einem ‚Guten Tag‘ zu beginnen wie jeder zivilisierte Mensch.“ Gregor lächelte nicht – er lächelte nie – aber er blinzelte mit den Lidern, und für Hendrik, der seinen Bruder gut kannte, kam das einem Lächeln ziemlich nahe. „Was willst du eigentlich? Der Pedell hat mir die Nachricht doch ausgerichtet, und hier bin ich!“
    „Danke, dass du so schnell gekommen bist.“
    Jetzt, wo er vor Ort war, schien Gregor keine Eile zu haben, ihn über den Grund seines Anrufes zu informieren. Konzentriert kniete der Kommisar sich wieder hinter den Schreibtisch, um die genaue Lage eines herabgefallenen Stücks Papier zu ermitteln. Hendrik verfolgte es mit Interesse, zumal er wusste, dass bei einer Morduntersuchung vieles im Ermessen des bearbeitenden Beamten lag. Dass es überhaupt Mordkommissionen gab, war noch keinesfalls selbstverständlich. Erst seit knapp zwanzig Jahren existierte ein Mordbereitschaftsdienst innerhalb der Kriminalpolizei. Früher hatte man nach einer Tat erst einmal damit begonnen, passende Ermittler zu suchen. Auch heute noch gab es keine zentrale Koordination der verschiedenen Kommissionen, geschweige denn ein einheitliches Vorgehen im Reich.
    Da sein Bruder sich dem Stück Papier widmete, nutzte Hendrik die Zeit und sah sich um. Eichenmöbel und eine Chaiselongue bestimmten das Arbeitszimmer. Eine Wand wurde von einem Regalschrank verdeckt, der neben Büchern vor allem Aktenordner und Briefe enthielt. Teile des Holzes waren herausgesägt worden, vermutlich, um darauf befindliche Blutflecke zu analysieren. Auch aus der ornamental gemusterten Tapete hatte man rechteckige Stücke entfernt, ohne Rücksicht auf die Folgen. Des Weiteren gab es einen Sekretär, den Schreibtisch, gepolsterte Stühle und einen Tisch mit Jubiläumsgeschenken samt einem Rauchservice aus Stahl, wohl aus dem eigenen Werk.
    Hendrik konnte seine Neugier nicht länger bezähmen. „Wer ist der Tote – Max Unger?“
    „Er wurde gestern Abend ermordet, nach ersten Schätzungen zwischen acht und zehn.“
    „Ziemlich viel Blut – sieht nicht nach einer kühl geplanten Tat aus.“
    „Wenn du die Leiche gesehen hättest, hättest du daran keinen Zweifel. Ungefähr zwei Dutzend Messerstiche, mit einer solchen Wucht beigebracht, dass sich da, wo der Griffansatz auf den Körper traf, das Textilmuster des Hemdes in die Haut gedrückt hat. Ein Mord im Affekt, dafür spricht auch die Tatwaffe, die laut Simon ein gewöhnliches Küchenmesser gewesen sein muss.“
    „Schränkt das den Kreis der Verdächtigen nicht ein?“
    „Du hast Max Unger nicht gekannt. Der Mann hatte ein Talent dafür, sich Feinde zu machen.“
    „Und warum hast du mich nun geholt?“
    Gregor ging an den Regalschrank, entnahm ihm ein Bündel Briefe und warf sie ihm zu.
    „Was ist das?“
    „Lies es! Es ist voll von dem kruden Zeug, mit dem du dich beschäftigst.“
    Das Blinzeln verriet Hendrik, dass sein Bruder eine Art Scherz gemacht hatte. „Philosophische Texte?“
    „Ich hoffe, du kannst mir Näheres sagen.“
    Hendrik öffnete den ersten Brief und vertiefte sich in dessen Inhalt, während sein Bruder sich der Untersuchung einer Schramme am Schreibtisch zuwandte. Erst als er das ganze Bündel ausgelesen hatte, gab er einen Kommentar ab. „Das widerlichste Zeug, das ich seit langem in den Händen hatte.“
    „Ich dachte mir schon, dass dir der Inhalt Freude bereiten würde.“
    „Was genau ist das?“
    „Soweit ich sehen kann, die Korrespondenz Max Ungers mit nationalen Kreisen, genauer gesagt, Mitgliedern der Nationalen Vereinigung.“
    „Wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloß als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmäßigung und Wert-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unseren Hoffnungen greifen?“ , las Hendrik vor.
    „Kennst du das?“
    „Nietzsche. Es gibt noch mehr von ihm, einseitig ausgewählt, wie ich hinzufügen möchte. Hier: Was ist gut? – Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. Nicht jedes Zitat ist allerdings von jemandem von seinem Format.“ Er griff nach einem anderen Brief. „ Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des
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