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Du oder das ganze Leben

Titel: Du oder das ganze Leben
Autoren: S Elkeles
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Ende. Shelley sitzt in ihrem Rollstuhl am Tisch. Sie ist vollauf damit beschäftigt, ihr püriertes Frühstück zu essen, denn selbst mit zwanzig ist meine Schwester noch nicht in der Lage wie andere Menschen zu kauen und zu schlucken. Wie üblich sind Shelleys Kinn, Lippen und Wangen breiverschmiert.
    »Hallo Shelley-Maus«, sage ich und beuge mich über sie, um
ihr Gesicht mit einer Serviette abzuwischen. »Die Ferien sind vorbei. Wünsch mir Glück für den ersten Schultag.«
    Shelley streckt ihre zuckenden Arme aus und schenkt mir ein schiefes Lächeln. Ich liebe dieses Lächeln.
    »Möchtest du mich vielleicht drücken?«, frage ich sie, auch wenn ich die Antwort schon kenne. Die Ärzte erzählen uns immer, je mehr Zuwendung Shelley bekommt, desto besser sei es für sie.
    Shelly nickt. Ich kuschle mich in ihre Arme und passe gut auf, dass ihre Hände nicht in die Nähe meiner Haare kommen. Als ich mich wieder aufrichte, schnappt meine Mutter erschrocken nach Luft. Für mich klingt es wie der grelle Pfiff eines Schiedsrichters, der von einem Moment auf den anderen mein Leben anhält.
    »Brit, so kannst du unmöglich zur Schule gehen.«
    »Wie?«
    Sie schüttelt ihren Kopf und seufzt genervt. »Dein T-Shirt.«
    Ich senke den Blick und entdecke einen großen, nassen Fleck mitten auf meinem Calvin-Klein-T-Shirt. Ups. Shelleys Spucke. Ein Blick in das verkrampfte Gesicht meiner Schwester sagt mir, was sie nicht in Worte fassen kann. Shelley tut es leid. Es war nicht ihre Absicht, mein Outfit zu ruinieren.
    »Kein Problem«, beruhige ich sie, auch wenn ich ganz genau weiß, dass mein »perfekter Look« damit hin ist.
    Mit gerunzelter Stirn benetzt Mom ein Papiertuch an der Spüle und reibt an dem Fleck herum – ich komme mir vor wie eine Zweijährige.
    »Geh nach oben und zieh dich um.«
    »Mom, es ist doch nur Pfirsich«, sage ich, meine Worte vorsichtig wählend, damit das Ganze nicht in einer mörderischen Brüllerei endet. Das Letzte, was ich will, ist, dass meine Schwester sich mies fühlt.

    »Pfirsich geht nicht mehr raus. Willst du, dass die Leute denken, dir sei dein Aussehen egal?«
    »Also schön.« Ich wünschte, Mom hätte heute einen ihrer guten Tage, an denen sie mich nicht wegen jeder Kleinigkeit nervt.
    Ich drücke meiner Schwester einen Kuss aufs Haar – sie soll nicht denken, ihre Spucke mache mir etwas aus. »Wir sehen uns nach der Schule«, sage ich in dem Versuch, die Stimmung zu retten. »Dann spielen wir unsere Damepartie zu Ende.«
    Ich renne die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend zurück nach oben. In meinem Zimmer angekommen, werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Oh nein! Es ist schon zehn nach sieben. Meine beste Freundin Sierra wird ausflippen, wenn ich sie zu spät abhole. Ich fische ein hellblaues Halstuch aus meinem Kleiderschrank und bete, dass mein Plan aufgehen wird. Vielleicht fällt der Spuckefleck niemandem auf, wenn ich das Tuch passend knote.
    Als ich die Treppe wieder hinunterpoltere, steht meine Mutter in der Eingangshalle und überprüft meinen Auftritt ein zweites Mal. »Schönes Halstuch.«
    Puh.
    Als ich an ihr vorbeihaste, drückt sie mir den Muffin in die Hand. »Iss ihn unterwegs.«
    Ich nicke ergeben. Während ich zu meinem Auto gehe, beiße ich gedankenverloren hinein. Doch gemeinerweise ist es nicht meine Lieblingssorte, Blueberry. Es ist ein Banana-Nut-Muffin und die Banane schmeckt überreif. Ein bisschen wie ich, denke ich: außen perfekt, innen Brei.

2
    Alex
    »Alex, steh auf.«
    Ich knurre meinen kleinen Bruder an und vergrabe meinen Kopf unter dem Kissen. Wenn man sein Zimmer mit einem Elf-und einem Fünfzehnjährigen teilt, ist so ein kleines Stück Stoff alles, was man an Privatsphäre hat.
    »Lass mich in Ruhe, Luis«, schnauze ich ihn durch das Kissen an. » No estés chingando .«
    »Das ist kein Scheiß. Mamá hat gesagt, ich soll dich wecken, damit du nicht zu spät zur Schule kommst.«
    Mein letztes Jahr. Ich sollte stolz darauf sein, als erstes Mitglied der Fuentes-Familie die Highschool abzuschließen. Aber nach dem Abschluss erwartet mich die knallharte Realität. Von der Uni kann ich nur träumen – für mich ist die Abschlussklasse so was wie die Ausstandsparty eines Fünfundsechzigjährigen, der in Rente geht. Du könntest noch ein paar Jahre, aber alle erwarten von dir, dass du endlich Leine ziehst.
    »Ich hab meine neuen Sachen an«, dringt Luis’ Stimme stolz, wenn auch gedämpft, durch das Kissen. »Die nenas werden einem
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