Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachensturm

Titel: Drachensturm
Autoren: Torsten Fink
Vom Netzwerk:
sah … und ihr stockte der Atem – sie sah! Ihre Hände fuhren vor die Augen. Endlich begriff sie: Sie sah, sie sah mit ihren eigenen Augen!
    Und was sie sah, war unglaublich. Da war dieses Wesen, zehnmal größer als Behemoth, es spannte seine weiten Schwingen und stieß sich mit einem Flügelschlag ab. Mila sah Indios und Spanier schreiend vom Rücken Tamachocs in die Tiefe fallen. Der Damm war zum Leben erwacht, der Damm war fort, und der See stürzte sich donnernd in die Senke, riss Spanier, Indios und alles mit, was sich eben noch auf dem Damm befunden hatte. Mila starrte ungläubig ins Licht. Die Regenschlange stieg in einer Wolke aus Staub, Gras und Blättern auf, schüttelte sich und ließ das alles hinter sich. Ihre Flügel waren wie Glas, in dem das Licht sich tausendfach brach. Die Regenschlange öffnete ihr Maul und stieß einen Ruf aus, klar und durchdringend wie von einer großen Glocke. Es war ein Ruf, der Mila so sehr berührte, dass sie plötzlich anfing zu weinen. Das Wesen schraubte sich in langsamen, eleganten Bewegungen höher und immer höher hinauf in den Himmel. Als auch der letzte Staub aus den Jahrhunderten, die sie in der Erde geruht hatte, von ihr abfiel, war die Regenschlange nur noch ein helles Gleißen in der Luft. Sie rief noch einmal, und ein anderer Ruf aus der Ferne antwortete.
    Mila wollte den Blick nicht von der schillernden Erscheinung am Himmel wenden, die nun mit eleganten Flügelschlägen nach Osten flog. Und dann sah Mila die anderen Drachen, die aus dem Wald aufstiegen, heraneilten und Tamachoc folgten. Keiner von ihnen trug noch einen Reiter. Sie erkannte Baal, Kemosch und Amun-Ra und auch die anderen Drachen. Den Schwarzen Nergal sah sie jedoch nicht, und auch Nabu war nicht unter ihnen.
    » Der Regenstein«, rief jemand mit erstickter Stimme.
    Widerwillig löste sie ihren Blick von dem Schauspiel am Himmel. Sie sah den Läufer neben sich knien. Er hielt den Stein in den Händen, wo er eben doch nur roten Staub gehalten hatte. Der Stein schimmerte rötlich, dann leuchtete er in allen Farben des Regenbogens auf, gleißte so hell, dass es in Milas Augen brannte – und dann verschwand er, löste sich auf in – nichts.
    Ein Drachenruf ließ sie wieder nach oben blicken. Da war die Regenschlange, jetzt nur noch ein beinahe unsichtbares Strahlen am Himmel. Sie flog schnell nach Osten, und die Drachen folgten ihr. Mila blickte ihnen so lange nach, bis sie auch den letzten der schwarzen Punkte nicht mehr sehen konnte. Sie verschwanden unter schwarzen Wolken, und Donner grollte in der Ferne.
    Als die ersten Regentropfen fielen, saßen Mila und Kemaq immer noch auf der Insel und starrten auf den neuen See, der sich zu ihren Füßen gebildet hatte. Der Damm war fort, der Wasserstand des alten Sees gefallen, und nun rauschte auf ihrer Seite das Wasser über große Felsen nur noch einige Schritte hinab, während der Wasserfall auf der anderen Seite ganz versiegt war. Die Bäume in der Senke standen halb versunken, viele waren auch von der Gewalt der Wassermassen umgestürzt und fortgerissen worden. Mila kannte ungefähr die Stelle, wo sie Nabu zurückgelassen hatte. Dort war nur Wasser, und es war keine Spur von Nabu oder Behemoth zu sehen. Mila drehte ihren Stab in den Händen und fühlte sich verloren. Sie hatte die Regenschlange vertrieben, die Drachen waren fort – und Nabu? Er war zurückgeblieben, um die Spanier aufzuhalten. Aber er hatte sie nicht aufhalten können, jedenfalls nicht sehr lange, und das konnte nur eines bedeuten. Sie zog die Knie ans Kinn, spürte den kalten Regen auf der Haut und dachte – nichts.

    Kemaq fühlte sich leer. Der Stein war fort. Tamachoc mit ihm. Das gab ihm einen Stich. Er hatte den Gott beleidigt und vertrieben, den Gott, der sein Volk immer beschützt und ihm Regen gebracht hatte. Kemaq konnte nicht erklären, ja nicht einmal begreifen, was er gesehen hatte. Jemand rief seinen Namen. Er blickte auf und sah Pitumi am Ufer stehen. Sie winkte ihm zu. Er hob nur ein wenig die Hand. Am Ufer zeigten sich nun auch andere Chachapoya. Der Wasserstand des alten Sees war gefallen, und dort, wo Tamachoc jahrhundertelang geruht hatte, ragten nun schwarze Felsen aus dem Wasser. Ein neuer, viel niedrigerer Damm war entstanden, die erste Stufe neuer Stromschnellen.
    Kemaq räusperte sich. » Kommst du mit?«, fragte er.
    » Wohin?«
    » Zu den Wolkenmenschen. Sie stehen dort drüben, siehst du?«
    » Ja, ich sehe sie«, sagte die Fremde
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher