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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman
Autoren: Blessing <Deutschland>
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in China ihren Bruder wiedergesehen hatte. Mal war sie zu müde, mal ging es ihrer Mutter nicht gut, und Christine fürchtete, sie zu überfordern, dann kam die Nachricht mit der Schwangerschaft, und irgendwann musste sie alles auf einmal erzählen. Da Long hatte die Kulturrevolution überlebt! War Ingenieur geworden. Hatte geheiratet, zwei Kinder bekommen. Jetzt war er wirklich tot. Christine war so aufgewühlt gewesen, dass ihre Stimme zitterte, dass sie in ihrer Erzählung immer wieder stockte und sie nur mit Mühe zu Ende bringen konnte. Die Mutter hingegen hatte sich die Geschichte angehört, ohne ein Wort zu sagen. Zuweilen mit dem Kopf genickt oder etwas Unverständliches gemurmelt.
    Mama, was ist los?, hatte sie gefragt.
    Nichts, hatte Wu Jie gesagt. Die Antwort hatte Christine einen Schauer durch den ganzen Körper gejagt. Nichts. Ungerührt.
    Sie dachte an ihr Un-Leben. An ungeweinte Tränen. Ungesagte Sätze. Ungeteiltes Leid.
    Was war mit ihrer Mutter? Warum reagierte sie so verhalten auf den Tod ihres Sohnes? Weil sie ihn ohnehin für tot gehalten hatte? Überforderten sie die Neuigkeiten? Kehrten zu viele Erinnerungen zurück? Christine hatte es noch einmal versucht und gefragt, warum sie nichts sage.
    Was soll ich sagen?, kam als Erwiderung, und in dem Satz, so erschien es ihr, lag die ganze Wahrheit dieses Lebens.
    Was sollte sie sagen? Zu ändern war es nicht mehr. Klagen nützte nichts. Gefragt hatte man sie nicht. Noch nie. Zu gar nichts.
    Christine hatte gehofft, dass die Enkelin ihre Großmutter zum Sprechen bringen würde, dass Wu Jie nach ihrem Sohn fragen, dass Yin-Yin von ihrem Vater erzählen würde. Stattdessen erwähnten sie den Namen, der sie verband, nicht einmal.

    Sie vermisste Paul. Warum hatte sie es bloß für eine gute Idee gehalten, dass sie sich ohne ihn trafen? Er hätte mit seinen Fragen oder seinem Humor vielleicht für Entspannung und Unterhaltung gesorgt. Sie suchte nach Gesprächsstoff, doch auf allem, was ihr einfiel, lag ein Schatten: Min Fang, Yin-Yins Kindheit, ihre eigene in Hongkong. So lobten sie das Essen, sprachen über Tee, Mahjong, Glückszahlen und chinesische Astrologie.
    Nach einer knappen Stunde war das Essen beendet, Wu Jie drängte zum Aufbruch.
    Der Abschied an der MTR-Station war kurz; sie wollten sich morgen, am Nachmittag, noch einmal sehen, jetzt fuhren ihre Züge in entgegengesetzte Richtungen.
    Christine brachte ihre Nichte zur Fähre zurück.
    Â»Es tut mir leid, meine Mutter kann manchmal ziemlich ruppig sein.«
    Â»Ist schon in Ordnung.«
    Â»Ich verstehe nicht, warum sie so distanziert war. Selbst als ich ihr von Da Longs Tod erzählt habe, hat sie sehr ruhig, fast kühl reagiert.«
    Â»Vielleicht hat sie ihm einfach nicht verzeihen können.«
    Â»Verzeihen?«
    Die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Du weißt es nicht?, besagte der eine, Wovon redest du?, der andere.
    Â»Hat dir deine Mutter nichts erzählt?«
    Â»Nein, was denn?«
    Yin-Yin schaute sich unsicher im Zug um, als wolle sie zu verstehen geben, dass dies nicht der richtige Moment sei, um über Familiengeheimnisse zu sprechen.
    Â»Was denn verzeihen?«, wiederholte Christine ungeduldig.
    Ihre Nichte beugte sich zu ihr herüber und sagte leise:
»Den Tod ihres Mannes. Es war kein Zufall, dass die Roten Garden an dem Tag eure Wohnung stürmten. Dein Vater war als Konterrevolutionär angeschwärzt worden.«
    Das Bersten der Tür. Todesangst in den Gesichtern ihrer Eltern. Ihr Vater auf dem Fensterbrett. Ein schwarzer Rabe, der nicht fliegen konnte. Wo war ihr Bruder? Warum sah sie ihn nie in diesem Bild? Eine unheilvolle Ahnung stieg in ihr auf. Sie hoffte, es möge nicht wahr sein.
    Â»Hat Da Long …?«
    Yin-Yin nickte.
    Â»Du meinst, die Roten Garden wurden von …?«
    Sie nickte noch einmal.
    Christine suchte nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, und griff nach der Hand ihrer Nichte.
    Â»Woher weißt du das?«
    Â»Ich habe es auch erst gestern erfahren. Mein Vater hat mir einen Abschiedsbrief hinterlassen, den fand Paul und gab ihn mir. Darin erklärt er sich.«
    Sie wollte nicht weinen. Nicht in diesem Zug. Nicht vor Yin-Yin. Sie sah ein kleines Mädchen vor sich, eines mit Zöpfen, großen Augen, einer blauen Schuluniform und langen dünnen Beinchen. Eines, das viel zu viele Stunden allein auf neuneinhalb Quadratmetern
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