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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman
Autoren: Blessing <Deutschland>
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ich denke?«, wiederholte sie. »Dass ich Hunger habe.«
    Sie faltete den Brief zusammen, steckte ihn zurück ins Kuvert, stand auf und rührte die dickflüssige Sauce um. Paul starrte sie ungläubig an. »Du kannst«, sagte Yin-Yin, »schon
Nudelwasser aufsetzen. Die Sauce ist bald fertig. Wo steht der Zucker?«
    Er deckte schweigend den Tisch. Sie wartete gespannt, ob er noch einen Anlauf unternehmen würde. Doch Paul hatte verstanden, dass sie weder über ihre Eltern noch über ihre Gefangenschaft reden wollte, und so erzählte er von seiner Jugend in New York, von seinen ersten Reisen nach China und wie er Christine kennen gelernt hatte. Sie sprachen über Musik und schauten sich mit Hilfe von Google Earth das Haus in Manhattan an, Ecke Avenue B und Zehnte Straße, in dem Yin-Yins Freundin lebte, bei der sie wohnen würde.
    Es war spät geworden. Paul entschuldigte sich, er war todmüde, sie sah es ihm an, er wollte ins Bett. Yin-Yin blieb allein am Küchentresen und überlegte, was sie machen sollte. An Schlaf war nicht zu denken. Vor einem Spaziergang in der Dunkelheit hatte sie Angst. Sie wollte drinnen bleiben, der Raum hatte etwas Behagliches, sie fühlte sich geborgen in diesem Haus, das wie eine kleine Burg auf dem Hügel über dem Dorf thronte. Es hatte zu regnen begonnen. Fette Tropfen schlugen gegen die Fensterscheiben. Sie ging in den Flur und betrachtete die Kindergummistiefel. Die gelbe Regenjacke an der Garderobe. Die Striche am Türrahmen.
    Der lange, schwierige Weg der inneren Loslösung.
    Zurück im Wohnzimmer stöberte sie in Pauls Plattensammlung und stellte fest, dass sie einen sehr ähnlichen Geschmack hatten. Yin-Yin überlegte, ob sie sich trauen würde, zum ersten Mal wieder klassische Musik zu hören. Wonach war ihr? Violine? Auf keinen Fall. Schubert-Lieder? Mahler? Auch nicht, Gesang würde sie zu sehr an ihre Mutter erinnern. Am liebsten Klavier. Schubert? Bach? Beethoven?
    Sie entschied sich für das »Wohltemperierte Klavier«. Als sie die CD aus ihrer Verpackung holte und in das Gerät
schob, war sie so aufgeregt, als täte sie etwas Verbotenes. Sie würde schnell merken, ob sie es ertragen konnte oder nicht.
    Die ersten Töne waren nicht mehr als eine Reminiszenz. Noch weit weg. Als spräche jemand in einer Sprache zu ihr, die einmal vertraut und nun in Vergessenheit geraten war. Mit jedem Präludium, jeder Fuge kamen mehr Erinnerungen zurück. Sie versank auf dem Sofa und sog die Klänge auf. Nach zwei Stunden mit dem ernsten und tiefgründigen Bach folgte ein heiterer Mozart, der sie an die Hand nahm und durch die Nacht führte. Mit ihm als Begleiter wurde die Angst weniger und weniger, bis sie verschwunden war.
    Allmählich verstand Yin-Yin, warum sie sich so lange Zeit genommen hatte. Die magische Kraft der Musik, ihre unheimliche Macht. Sie war wie ein Schlüssel, der etwas in ihr öffnete, und genau deshalb liebte sie sie. Weil ihr Weg ins Innerste eines Menschen führt und durch nichts aufzuhalten ist. Weil ihr »Zeiten der Finsternis« nichts anhaben können. Weil man sich in ihrer Begleitung nicht belügen kann. Auf Mozart, dachte Yin-Yin, war immer Verlass. Wie auf einen Freund.
    Schließlich wagte sie sich an Beethoven. Der Komponist, vor dem sie den meisten Respekt hatte. Nicht nur, weil sie seine geniale Musikalität bewunderte, sondern wegen der Gefühle, die er in ihr auslöste. Mit Beethoven musste sie vorsichtig sein; ihn konnte sie schon in Zeiten, in denen sie sich weitaus stabiler fühlte, nicht immer hören und noch seltener spielen. Sie legte die »Mondscheinsonate« auf. Yin-Yin lief ein Schauer über den Rücken. Sie schluckte. Deshalb war sie Musikerin geworden. Weil sie sich vor solchen Kompositionen nicht verstecken konnte. Weil sie das Höchstmaß an innerer Beteiligung verlangten.
    Wie das Leben.

    Die Klaviertöne holten Tränen hervor, wohltuende, befreiende Tränen, gegen die sie sich nicht wehren konnte. Nicht wehren wollte. Yin-Yin ahnte, dass das kein zweiter Moment der Schwäche war, sondern ein erster der Stärke.
    Die Lage war unzweideutig. Die Kraft des Schattigen war im Absteigen begriffen.
    Die Nacht war fast vorüber, als sie die Schiebetür zur Terrasse öffnete und hinaus in den Regen trat. Er war wunderbar warm und kräftig und durchtränkte in wenigen Sekunden ihr T-Shirt und ihre
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