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Drachenkaiser

Drachenkaiser

Titel: Drachenkaiser
Autoren: Markus Heitz
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Einbildung zum Leben! Mit neuartigen Projektoren oder anderen Taschenspielertricks hatte das nichts mehr zu tun. Ein Massenhypnotiseur? Ein Medium?
    »Die Letzten der Horde ergriffen die Flucht«, rief Wu Li, »als der gefürchtete Drache Nie-Lung erschien!«
    In der großen Sphäre erschien der goldgeschuppte Kopf eines chinesischen Drachen, der sein zahnreiches Maul weit aufgerissen hatte und voller Hass fauchte. Auf seinem Rücken entfalteten sich filigrane Schwingen, und sein Hornpanzer glänzte; entlang der Wirbelsäule saßen gezackte, aufgerichtete Schuppen, die bis zum Schweifende verliefen. Die Hörner wirkten mehr wie ein Geweih und hatten wenig mit denen der europäischen Monster zu tun. Orangefarbene Augen starrten durch die Blase in das Pagodenzelt.
    Jetzt schrien die Zuschauer vor Schrecken auf – aber Alfred blieb stumm, seine Augen funkelten vor Glück. Meister! Er bewunderte den langen, gewundenen Leib, an dem vier Beine mit je fünf Klauen saßen. Schöner, als ich ihn mir vorgestellt habe!
    »Nie-Lung fuhr auf sie nieder und wütete schrecklich!«, erzählte Wu Li beschwörend, und der Drache in der Sphäre schnappte wild um sich, wand den biegsamen Körper um die Männer, zerquetschte sie und zerbiss die Krieger, wie er sie zu packen bekam.
    Alfred hörte die Knochen brechen, das Blut auf den Boden plätschern und das Metall sich verbiegen. Die Schreie klingen echt! Die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf.
    Plötzlich zerbarst die Seifenblase, und Nie-Lung war frei!
    Er schoss unter dem Zeltdach entlang, flog eine Runde und zog mit seinen zehn Metern Länge brüllend über die Männer, Frauen und Kinder hinweg. Sein Atem schwappte heiß ins Zelt und brachte die Luft zum Flimmern. Lose Papiere stoben davon, einige Mützen und Hüte wurden den Besitzern von den Schöpfen gefegt.
    Die ersten Besucher sprangen von den Sitzen auf und wollten in Panik aus dem Zirkus flüchten.
    Mit einem lauten Fauchen verging Nie-Lung zu harmlosem weißem Rauch, kleine Kringel formten sich und trieben in die Höhe, während das letzte Kreischen des Drachen verhallte. Das Licht erwachte und vertrieb mit seiner gleißenden Helligkeit die letzten Reste des Zaubers.
    Wu Li stand regungslos in der Manege, die Hände wieder auf den Rücken gelegt, und lächelte in den Tumult, der sich langsam legte. Er wartete, bis auch die letzten an ihre Plätze zurückgekehrt waren, bevor er mit ruhiger Stimme sagte: »Die Horde konnte nicht wissen, dass Lin Wei die Braut des Drachen war, der sie mit seinen magischen Kräften beschützte. Fortan lebte sie in Sicherheit. Bis an ihr Lebensende.« Er machte eine lange Pause, dann kam er um das Tischchen herum und verneigte sich.
    Der Applaus explodierte regelrecht. Den Zuschauern stand die Begeisterung auf die Gesichter geschrieben. Manche rangen noch mit den Auswirkungen des Schreckens, den der Scheindrache ausgelöst hatte, aber dennoch gewährten sie ihm stehende Ovationen. Blumen wurden dem Chinesen zu Füßen geworfen, und die Hochrufe wollten gar nicht mehr enden.
    Alfred atmete tief durch. Meine Güte! Da darf ein Herz nicht schwach sein. Er brauchte eine halbe Minute, bis er sich aus dem Bann der Bilder gelöst hatte.
    Schluss mit dem Mumpitz. Er nahm die frenetisch klatschende Klara am Arm und zerrte sie hinter sich her. »Los. Wir müssen die Ersten sein!«
    Sie drängelten sich durch die Reihen, während der Conferencier zu den Tönen leiser chinesischer Musik verkündete, dass die Tierschau gleich öffnen würde. Alfred sah, dass sich fünf weitere junge Männer und Frauen auf den Durchgang zubewegten, der sie zu den Käfigen führte. Sehr gut.
    Gemeinsam gelangten sie an das Gittertor, wo der lächelnde Kartenabreißer in einem bunten chinesischen Gewand ihre Eintrittsbillets entgegennahm und sie anschließend mit einer Verbeugung und einer einladenden Geste in den Innenhof hinter der Pagode ließ.
    Alfred, Klara und ihre Mitstreiter standen im Freien. Dreißig Wagen waren im Karree aufgestellt worden, in der Mitte befand sich ein Zaun, hinter dem verschiedene Lamas, Büffel, Dromedare und Kamele auf frischem Stroh der Besucher harrten und vor sich hin kauten. Auch hier sorgten weiße Lampions für Licht.
    »Wo ist er?«, fragte Klara aufgeregt und blickte sich um.
    »Das werden wir gleich herausfinden. Sie haben ihn irgendwo auf dem Gelände ausgestellt wie eines ihrer schnöden Tiere.« Alfred sah in die angespannten Mienen der Gleichgesinnten. »Was immer mit uns
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