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Die Stunde des Fremden

Titel: Die Stunde des Fremden
Autoren: West Morris L.
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    1
    Es war die Reportage seines Lebens. Er saß in der Halle des Hotels ›Caravino‹ und genoß sie Seite für Seite – so wie ein General die Planung seines kommenden Triumphes genießen mag, oder eine Frau die Briefe ihres Geliebten. In einem einfachen Bürohefter lag sie vor ihm, präzise und unanfechtbar – die Reportage, von der jeder Reporter träumt. Es fehlte nichts mehr als der Beweis, und den würde er in einer Stunde in der Hand haben, wenn Enzo Garofano, sein Informant, die Photokopien der Orgagnabriefe bringen würde.
    Dann konnte er Sorrent und dieses lichte Touristenparadies mit seinen verhängten Glaswänden, seinen blendenden Wandmalereien, seinen sonnenüberfluteten Terrassen und seiner Aussicht auf Klippen, Meer und sonnengebräunte Körper verlassen. Er würde packen und abfahren – zurück nach Rom. In das Büro, wo die Mädchen an den Fernschreibern schon darauf warteten, seinen Bericht nach Paris, London und New York durchzugeben. Zweifellos würde er dort die Schlagzeilen der Morgenzeitungen beherrschen!
    Unter diesen Schlagzeilen würde sein Name stehen: »Von unserem Sonderkorrespondenten Richard Ashley.«
    Ashley war hochgewachsen, breitschultrig und schlank, mit kurz geschnittenem Haar und einem schmalen, sonnengebräunten Gesicht, um dessen Mund und Augen vielerlei Erfahrungen ihre Linien gezogen hatten. Er trug ein überhängendes, buntes Hemd, blaue Leinenhosen und Ledersandalen, die er von einem hiesigen Schuhmacher hatte anfertigen lassen.
    Heute war er vierzig geworden. Selbst dieser Gedanke war ihm angenehm. Es ist schön für einen Mann, bewußt den Gipfel seiner Karriere erreicht zu haben.
    Er schloß den Hefter und legte ihn auf den Tisch neben seinem Stuhl. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Drei Uhr dreißig. Um vier Uhr dreißig würde Garofano kommen. Bis dahin mußte er noch von Rom die Bestätigung einholen, daß das Büro sein Zweitausend-Dollar-Angebot für die Photokopien genehmigt hatte und daß der Betrag beim American Express in Sorrent zum Abholen bereitlag. Er runzelte ungeduldig die Stirn. Hansen ließ sich ein bißchen viel Zeit.
    Hinter der Bar räusperte sich Roberto leise. Ashley sah auf. Roberto deutete grinsend auf die Terrasse: Ashley entdeckte ein Paar höchst anziehender, sonnengebräunter Beine, die sich auf den leuchtend bunten Kissen eines Liegestuhles ausstreckten. Den übrigen Teil ihrer Eigentümerin verbargen die Vorhänge neben der Tür.
    Ashley schüttelte lächelnd den Kopf. Es war ein höchst herausfordernder Anblick, doch ohne jedes Interesse für einen Mann, der im Augenblick seinen größten Triumph feiert. »Denken Sie nur hübsch an Ihren Dienst, Roberto!« sagte Ashley. »Machen Sie mir einen Martini. Und wenn der auch wieder nicht trocken ist, kippe ich ihn hinter Ihren Kragen.«
    Roberto lachte leise.
    »Da wüsste ich etwas Besseres: geben Sie ihn der Dame, und ich mache Ihnen einen anderen.«
    Ashley hob die Schultern.
    »Dafür habe ich weder Zeit noch Geld. Außerdem bin ich im Dienst.«
    Roberto stellte die Flasche aus der Hand und gestikulierte theatralisch.
    »Im Dienst! Bei dem Wetter? Um diese Tageszeit? Angesichts einer so schönen Frau? Verrückt!«
    Er seufzte tief und widmete sich hinter seiner gekachelten Bar der Herstellung des Martinis. Roberto war ein dunkler, untersetzter Bursche mit glatt zurückgekämmtem Haar, einem kleinen Bärtchen und einem bereitwilligen Lächeln. Er war ein guter Barkeeper. Sein Benehmen war eine angenehme Kombination von Ehrerbietung und neapolitanischer Unverschämtheit. Die Ehrerbietung brachte ihm Trinkgelder von den Männern ein, und die Frauen zahlten ihm in anderer Münze für seine schmeichelhaften Kühnheiten.
    Ashley sah schon wieder auf seine Uhr.
    »Wann macht die Post auf?«
    »Um drei, Signore.«
    »Ich erwarte ein Telegramm. Müßte längst hier sein.«
    Roberto spreizte die Arme.
    »Geduld, mein Freund! Geduld! Das Telegramm muß erst mal bei der Post ankommen, dann muß man es abschreiben, dann muß man einen Boten …«
    Er verstummte und beobachtete mit offenem Mund, wie sich die braunen Beine von dem Liegestuhl schwangen und ihre Eigentümerin in Sicht kam: eine bildschöne Blondine in einem Bikini, die sich mit vollendeter Grazie an die Balustrade lehnte. Sie lächelte die beiden Männer aufreizend an und schritt mit wiegenden Hüften zum anderen Ende der Terrasse.
    »Na?«
    Roberto schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Es ist zuviel, Signore! Es
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