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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex
Autoren: T. C. Boyle
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ausgegangen«, antwortete ich, und dann sagte ich, es sei Zeit, zu Bett zu gehen.
    Es hatte niemand angerufen, weder Mrs. Matthews, um zu fragen, ob ich krank sei, noch Prok, um sich zu entschuldigen (oder vielmehr meine Entschuldigung anzunehmen), noch Rutledge oder Corcoran oder Mac. Gegen acht wählte ich schließlich Corcorans Nummer. Es meldete sich Violet.
    »Hallo, Violet, hier ist John. Ist Purvis da?«
    Ihre Stimme klang gedämpft, alle Vertrautheit war wie ausgewaschen. »John«, sagte sie, als spräche sie den Namen probeweise aus. »Klar. Klar. Ich hole ihn.«
    »Hallo, John?« Das war Corcoran, und bevor ich etwas sagen konnte, stellte er mich zur Rede. »Was sollte das gestern nacht? Du kannst doch nicht ... John, hör mal, wir alle stecken da drin, das weißt du. Das ist nichts Persönliches. Du kannst Prok nicht herumkommandieren, niemand kann das. Und dann kommst du nicht zur Arbeit –«
    »Ist Iris da?«
»Iris? Wovon redest du?«
»Von meiner Frau. Iris.«
»Ist sie denn nicht bei dir?«
»Nein«, sagte ich, und das Blut schoß mir ins Gesicht. »Ist sie denn nicht bei dir?«
»John, hör mal, du regst dich auf, und das ist dumm, wirklich dumm. Laß diese Sache nicht alles kaputtmachen, wirf nicht deine ganze Karriere weg für ... für –«
»Liebe?«
Er antwortete wie aus der Pistole geschossen, und seine Stimme war hart vor Verärgerung. »Nein«, sagte er, »um Liebe geht es dabei nicht.
Liebe hat nichts damit zu tun. Nichts. Überhaupt nichts.« Ich brachte John junior so gut ich konnte zu Bett, nach flüchtigem Zähneputzen und minimalem Gesichtwaschen – aus irgendeinem Grund hatte er etwas gegen den Waschlappen: Er war zu rauh oder nicht warm genug oder es war zuviel oder zuwenig Seife daran –, und das nächste, an das ich mich erinnere, war das Motorengeräusch vor dem Haus. Als ich durch die Tür und hinaus in die noch immer stürmische Nacht rannte, war der Wagen bereits am Ende der Zufahrt, die Rücklichter entfernten sich, ein kurzes, wütendes Aufflackern der Bremslichter, kein Blinker, und dann schwangen die Zwillingskegel der Scheinwerfer herum und bogen auf die Landstraße ein, und als ich wieder ins Haus ging, in John Juniors Zimmer, stellte ich zu spät fest, daß er nicht mehr da war.
    Die nächsten beiden Tage war ich betrunken. Das war nicht schön, das war nicht vernünftig. Es war eine Schwäche von mir, ererbt von meinem toten Vater und dessen Vater – einem Milch aus Verden an der Aller, wo meines Wissens noch immer ein Dutzend saufende Angehörige dieser Sippe lebten, Vettern und Großonkel, die vor billigen Radios saßen, blechernen Nachkriegsjazz hörten und ihre Sorgen in Beck’s und Schnaps ersäuften. Am ersten Tag lag ich auf dem Sofa und trank, was wir im Haus hatten: eine Flasche Bier, das im Kühlschrank schal geworden war, meine Reserveflasche Bourbon, schließlich den Inhalt meines Flachmanns (halbvoll mit etwas, das wie Geritol schmeckte, in Wirklichkeit aber der Rest des Southern Comfort war, den ich im letzten Herbst eingefüllt hatte, als Iris und ich zu einem Footballspiel gegangen waren). Ich setzte den Flachmann an – J. A. M., das Geschenk zu meinem Studienabschluß, von Tommy, Iris’ Bruder – und starrte an die Decke. Davor hatte ich Iris’ Mutter in Michigan City angerufen. War Iris da? Schweigen. Dann die tiefgekühlte Stimme meiner Schwiegermutter. Ja, Iris war da. Konnte ich mit ihr sprechen? Nein, das konnte ich nicht.
    Am zweiten Tag erwachte ich mit Kopfschmerzen und machte mit zittrigen Händen eine Mansche aus Speck, Eiern und den steinharten Resten von Iris’ Brot. Ich ging nicht zur Arbeit, ich rief meine Frau nicht an – sollte sie doch anrufen –, und vor allem gestattete ich mir nicht, an irgend etwas zu denken, nicht an Prok, nicht an das Projekt oder meine Kollegen oder an das, was in dem Speicherzimmer über mich gekommen war. Wir hatten Zombies getrunken, oder? Also gut, dann war ich jetzt eben ein Zombie, ohne Willen, ohne Gefühle. Gegen Mittag ging ich, noch immer etwas wacklig, im grellen Licht eines sonnigen Vorfrühlingstags in die Stadt, in eine Kneipe, wo es Bier im Überfluß gab und eine Fülle indirekt beleuchteter Flaschen mit harten Sachen, die das Bier auf dem Weg nach unten begleiten würden. Ich hielt den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet, denn einem Bekannten zu begegnen war das letzte, was ich wollte.
    Ich kann mich nicht erinnern, an diesem Nachmittag etwas gegessen zu haben. Ich
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