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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex
Autoren: T. C. Boyle
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arbeitete den ganzen Vormittag ohne Pause. Ich konzentrierte mich auf die Geraden und Kurven und die Schraffierungen der Diagramme, die ich zeichnete, auf die zueinander in Beziehung gesetzten Zahlen, auf die Mittel- und Gesamtwerte, die nie logen. Rutledge und Corcoran streckten den Kopf durch die Tür und begrüßten mich, während Prok sein Zimmer nicht verließ und Elster zweimal vorbeimarschierte, mit gereckten Schultern, den Blick starr geradeaus gerichtet. Bei der ersten Gelegenheit – als ich das verräterische Rascheln der Papiertüte hörte, in der Prok sein Mittagessen aus Sonnenblumenkernen, Nüssen und Schokolade hatte – ging ich in sein Zimmer und schloß die Tür.
    »Prok«, sagte ich, »ich wollte nur ... Ich wollte ...«
    Er hatte die Ellbogen rechts und links von seiner Arbeit, seiner ewigen Arbeit, auf den Tisch gestützt. Er wirkte angegriffen und erschöpft. Für einen Augenblick ließ er den Kopf sinken, so daß er aussah wie ein Gehenkter. Die Schultern sackten nach vorn, und als er aufblickte, war etwas in seinen Augen, das ich noch nie zuvor dort gesehen hatte: keine Schwäche, nein, das nie, niemals, aber etwas, das dem sehr nahe kam – eine Mildheit, ein Hinnehmen, eine inständige Bitte. »Nicht nötig, John«, sagte er und wiederholte es leiser, sanfter, »nicht nötig. Aber setz dich doch. Ich muß mit dir reden – wir müssen miteinander reden.«
    Ich zog den für Probanden reservierten gepolsterten Stuhl heran und ließ mich nieder. In den Rohren über uns tickte es. Ein rastloses blasses Licht zog über das Fenster dahin – Wolken, die dem Sonnenlicht nachjagten, dann aber aufgaben.
    »Wo soll ich anfangen?« murmelte er, lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Am besten wohl bei den Frauen. Bei der Ehe. Wir untersuchen hier das Verhalten der weiblichen Exemplare unserer Spezies, nicht wahr, John?«
    Ich nickte.
»Interessant, wie sich das Y-Chromosom im Lauf der Zeit immer durchsetzt, nicht?« Er nahm einen Bleistift und legte ihn wieder hin. »Aber was ich sagen wollte, ist: Die Ehe ist die große und beherrschende Institution unserer Gesellschaft, und wir haben uns für sie entschieden, wir haben uns für unsere Frauen entschieden, für Mac und Iris. Und was du neulich abend getan hast – nein, nein, laß mich ausreden –, war in der Situation verständlich, auch wenn es gezeigt hat, wie wenig du in all den Jahren gelernt hast.« Er stieß einen langgezogenen Seufzer aus. »Aber ich glaube wirklich, daß du als mein Assistent, als mein Kollege – fast als mein Sohn, John, mein Sohn – einsehen mußt, daß in unserer Forschungstätigkeit kein Platz für Emotionen und emotionale Ausbrüche ist. Laß das hinter dir, John. Bitte.«
Ich wandte den Blick nicht von ihm ab – das immerhin hatte ich gelernt. Ich konnte ebenso undurchdringlich sein wie er. Ich sagte: »Das kann ich nicht.«
»Du kannst es. Und du wirst es.«
»Iris ...« begann ich, und ich wußte nicht, was er gehört hatte und wieviel er wußte. Ich wollte ihm sagen, daß sie fort war und daß nichts – nicht das Projekt, nicht er oder Mac oder alle Tabellen und Statistiken der Welt – diesen Verlust aufwiegen konnte. Aber ich brachte die Worte nicht heraus, und alles wurde noch komplizierter dadurch, daß ich ständig dieses Bild vor Augen hatte, wie er sich nackt, mit einer Erektion, über Iris beugte wie ein Tier – kein menschliches Säugetier, sondern einfach bloß ein Tier –, ein Bild, das meinen Schlaf zerriß und in den Wachstunden schwärte. Welches Recht hatte er? Welches Recht?
»Sie wird zurückkommen.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Er seufzte, verstieß gegen seine eigene Regel und sah nach oben auf die Rohre, bevor er mir einen scharfen, ungeduldigen Blick zuwarf. »Frauen haben die gleichen physiologischen Bedürfnisse wie Männer – alle unsere Zahlen beweisen das, wie du wohl weißt. Das gilt besonders im Hinblick auf die Physiologie der Erregung und des Orgasmus und das Zusammenwirken von Organen und Drüsen. Tatsache ist, daß Frauen Sex genauso brauchen und genauso stark darauf reagieren wie Männer. Ganz genauso. Und es ist ein Verbrechen, ihnen das zu verwehren oder sie auf ein viktorianisches Piedestal zu stellen, als errötende, jungfräuliche Bräute, die Sex einmal im Monat im Dunkeln über sich ergehen lassen, zur Arterhaltung. Wie viele Interviews hast du durchgeführt, John?«
»Ich weiß nicht. Siebzehn- oder achtzehnhundert, glaube ich.«
Das
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