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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex
Autoren: T. C. Boyle
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Hund wirkte ungepflegter, Iris’ Mutter war älter geworden, der Teppich im Wohnzimmer war abgenutzt –, weil ich innerlich verknäult war wie ein Stück Draht. Ich konnte nur an Iris denken. Würde sie mit mir sprechen? Würde sie mich überhaupt sehen wollen?
»Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte meine Schwiegermutter. »Sie müssen müde sein – sind Sie heute den ganzen Weg gefahren?«
»Ja«, sagte Prok und nahm auf dem Sofa Platz, »aber John und ich sind daran gewöhnt, stimmt’s, John?«
Ich stand neben ihm und konnte mich nicht entscheiden. Ich wußte nicht einmal, ob ich mich würde setzen können, ob meine Muskeln mir gehorchen würden, ob mein Gehirn den Befehl dazu erteilen würde. »Ja«, murmelte ich.
Iris’ Mutter war wie ausgewechselt, so stolz, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ihr Haus beherbergte eine Berühmtheit, der große Mann persönlich saß auf dem Sofa im Albion Drive 14. »Tee«, sagte sie, und diesmal galt ihr Lächeln auch mir, »wie wär’s mit einer Tasse Tee? Und ich habe auch ein paar Plätzchen ...«
Mit ausgesuchter Höflichkeit und der Stimme, die ich weiß nicht wie viele Tausend in Bann geschlagen hatte, sagte Prok, das sei überaus freundlich, eine echte Wohltat, und meine Schwiegermutter lag ihm praktisch zu Füßen. Obgleich ich mit den Gedanken ganz woanders war, fragte ich mich unwillkürlich, wie lange es dauern würde, bis sie ihm ihre Sexgeschichte anbot.
Ich war im Begriff, sie zu unterbrechen und zu fragen, wo meine Frau und mein Sohn waren und warum sie sie noch nicht geholt hatte, als plötzlich von oben eine Klarinette erklang, etwas Zögerndes, Gebrochenes, unendlich Trauriges, als hätte sich aller Kummer der Menschheit in dem ersterbenden Hauch dieser Melodie gesammelt. »Das ist Wagner«, sagte Prok. »Der ›Liebestod‹, nicht? Aus Tristan und Isolde.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, sagte Iris’ Mutter und hob die Hände. »Bei Iris kann es alles mögliche –«
Da war ich schon unterwegs, durch die Tür, die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, und Prok war mir egal, ebenso wie das Projekt und alles andere, mir war alles egal außer ihr, Iris, meiner Frau, der Frau, die ich liebte und brauchte und wollte. Ich riß die Tür auf, und da war mein Sohn, er lag schlafend mitten auf dem Bett, als wäre er vom Himmel gefallen, und Iris stand mit der Klarinette am Fenster. Sie trug flauschige, zu große Kinderhausschuhe und eine Bluse, die zu ihrer Augenfarbe paßte. Sie spielte noch zwei Noten, sostenuto e diminuendo, und dann legte sie langsam und unendlich vorsichtig das Instrument beiseite und streckte die Arme aus. Und soll ich Ihnen was sagen? Ich habe sie nie mehr losgelassen, nie, nie mehr.

EPILOG 
    BLOOMINGTON, INDIANA 27. August 1956
    Ich würde gern berichten können, daß wir uns von da an in ruhigem Fahrwasser bewegten, daß Iris und ich die nötige Feinabstimmung vornahmen und – bis auf den heutigen Tag jedenfalls – harmonisch miteinander lebten und daß das Projekt Früchte trug und Prok die Anerkennung erfuhr, die er als eines der großen Originalgenies des 20. Jahrhunderts verdiente, aber im Gegensatz zu Romanen gibt es im Leben nur selten ein ordentliches, sauberes Ende. Iris nahm nie wieder an einem musikalischen Abend teil, und sie ging nie wieder die Treppe zum Speicherzimmer des Hauses in der First Street hinauf. Bei den gesellschaftlichen Anlässen, den Picknicks, den gelegentlichen Abendessen für die Mitglieder des Teams und den Weihnachtsfeiern war sie dabei, betrachtete das jedoch lediglich als Verpflichtung. Sie ließ die Freundschaft mit Mac, Violet Corcoran und Hilda Rutledge nach und nach einschlafen und wandte sich einem neuen Kreis von Leuten zu, die sie noch von ihrer Tätigkeit als Lehrerin kannte, ja sie sagte sogar, wenn John junior auf der Highschool sei, wolle sie wieder arbeiten. Ich machte weiter im Institut – Interviews, Reisen, Filme, manchmal als Beobachter, manchmal als Teilnehmer. Iris und ich sprechen nicht darüber. Ich versuche, meine Arbeit im Büro zu lassen, wie es so schön heißt. Und Elster ... Sobald wir aus Michigan City zurück waren, ließ Prok ihn wieder in die Bibliothek des Instituts für Biologie versetzen, und in Wylie Hall ist er seither nicht mehr willkommen. Und das ist auch gut so, sage ich.
    Was Prok betrifft: Sein Leben war zu kurz. Zweiundsechzig. Heute morgen haben wir ihn begraben. Er wollte hunderttausend Geschichten aufzeichnen, das war sein großer
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