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Dorn: Roman (German Edition)

Dorn: Roman (German Edition)

Titel: Dorn: Roman (German Edition)
Autoren: Thilo Corzilius
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Eherne Reich kam mir Zeit meines jungen Lebens immer schon wie ein alterndes Raubtier vor, dem die Krallen nach und nach ausfallen.
    Es macht auf den Karten den allergrößten Teil des Kontinents Dorn aus – wobei jene Teile Dorns, die jenseits des immensen Liliengebirges im Osten liegen, noch kaum karthographiert sind. Was wir davon wissen, kennen wir meist nur aus Erzählungen und Legenden.
    Der Zenit der Macht und der Größe des Reiches war lange überschritten und sicherlich munkelte man vielerorts über einen schleichenden Niedergang. Und dabei ging es sicher nicht um die zunehmenden Machtspielchen, die sich die adeligen Häuser bisweilen untereinander lieferten.
    Tatsache war jedoch, dass die Bewohner des Ehernen Reiches nichts Besseres hatten als eben dieses eine Eherne Reich. Solange er lebte, hatte mein Vater mir eingebläut, dass es um all die anderen Menschen ging. Denn alles, wozu die mächtigen Häuser des Reiches in Wirklichkeit verpflichtet waren, war das Bestmögliche für alle Beteiligten herauszuschlagen. Also auch für das, was viele wohl das einfache Volk nennen würden.
    Leider gewann ich schon in der Jugend oft den Eindruck, dass diese Einsichten außerhalb von Falkenberg nicht viel zählten – mit Ausnahme des Seenlandes vielleicht.
    Das Geplänkel der Adeligen um eine möglichst günstige Stellung unter ihresgleichen wurde meist besonders heftig, wenn politisch wirklich bedeutsame Entscheidungen zu treffen waren. Beinahe jedes der höheren Häuser versuchte, sich irgendwie ein wenig mehr zu profilieren. Schein war dabei oft mehr als Sein.
    Und nun – einem ungeschriebenen Gesetz gleich – sollte es wieder soweit kommen. Sehr bald schon. Denn es gingen bereits seit einigen Tagen Gerüchte um. Und sie bestätigten sich leider an jenem frühen Morgen, noch ehe der erste meiner unerwarteten Besucher überhaupt ein Wort gesprochen hatte.
    Kurz nach Sonnenaufgang war ich bereits oben auf den Wehrgängen über dem Tor der Burg Tanne, in der meine Familie seit einer kleinen Ewigkeit residierte. Wie lange, das wusste niemand mehr so genau. Höchstwahrscheinlich war es in irgendwelchen Schriften, tief vergraben in irgendwelchen Archiven noch nachzulesen. Aber von den Leuten, mit denen ich mich tagtäglich umgab, wusste es niemand.
    Ich sah über das morgendlich blasse Land. Welche Schönheit mich hier in Falkenberg doch umgab. In solchen Momenten dachte ich gern an die Zeit aus den Legenden zurück, als diese Lande noch voller Magie gewesen waren und so wundersame wie erhabene Wesen die Welt bevölkert hatten.
    Doch die Magie von einst war lange erloschen.
    Ein altes Ritual führte mich auf die Wehrgänge hinauf. An drei bis vier Tagen in der Woche traf ich mich hier oben in aller Frühe mit dem Hauptmann der bescheidenen Garde von Falkenberg: meinem Getreuen Hermelink von Tiefentann.
    Ein loyaler Mann – und wenn es so etwas wie Vaterlandsstolz für die Grafschaft Falkenberg gab, dann war Hermelink ein Inbegriff dessen. Er war sieben Sommer älter als ich und wir hatten einander beim Aufwachsen zugesehen. Für mich war er daher so etwas wie ein älterer Bruder.
    Hermelink war weitsichtig auf seine Art. Mit ihm konnte ich Entscheidungen besprechen, die mehr als nur mich betrafen – und das war mir wichtig.
    »Guten Morgen, Herr Deckard«, begrüßte er mich. Eine tönerne Kanne mit Kräutertee stand dampfend zwischen zwei aus Bruchstein gemauerten Zinnen. Nebst zwei Tonbechern. Er hatte mich – wie üblich – erwartet.
    Doch zu unserem morgendlichen Plausch kamen wir nicht. Von der Spitze des Bergfrieds erklang ein Horn. Ein langer, tiefer Stoß hallte über die verschlafene kleine Burg.
    Und wenige Augenblicke später sahen auch Hermelink und ich den Grund des Hornsignals: Von Osten näherte sich ein Reiter. Noch nahm er den Weg durch die Dünen und war sehr klein am Horizont. Doch die Standarte, die er trug, war unverkennbar: Strahlend helles Weiß, gleißend wie ein Stern. Es gab nur ein Banner im Reich, das diese Farbe trug. Das Banner des Königs.
    Und auch, wenn man vieles hoffen mochte, das Auftauchen des Reiters konnte in diesen Tagen eigentlich nur einen einzigen Grund haben. Die Gerüchte verdichteten sich schlagartig zu trister Wirklichkeit.
    Ich seufzte ergeben.
    Natürlich musste dem Protokoll genüge getan werden – soweit man überhaupt von Protokoll sprechen konnte. Eher von Förmlichkeiten.
    Hermelink und ich tauschten einen vielsagenden Blick. Seine eisgrauen Augen
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