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Dorn: Roman (German Edition)

Dorn: Roman (German Edition)

Titel: Dorn: Roman (German Edition)
Autoren: Thilo Corzilius
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auf den Steg und spielte offenbar gegen sich selbst. Jeden Zug bedachte er viele Minuten, während die Herbstsonne über ihm ihre lange Bahn zog. Die Geräusche des Hafens, das Geschrei des örtlichen Marktes und überhaupt jede Geschäftigkeit ließen ihn dabei völlig unbeeindruckt.
    Seinen Namen hatte er niemandem verraten. Und niemand hatte ihn danach gefragt. Hinck vermutete, dass er seinem Vater das nötige Kleingeld extra zugesteckt hatte, damit ein Name keine Rolle spielte.
    Kurzum, der namenlose Gast gab Hinck ein interessantes Rätsel auf.
    Es dauerte noch einige Tage, bis Hinck sich traute, den Fremden anzusprechen.
    Zögerlich versuchte er es, als der Gast wieder einmal draußen auf der Bank saß und so eigentümlich auf die schillernden Wellen des Großen Golfs hinausblickte.
    »Guten Tag, Herr«, sagte Hinck, genauso artig, wie er es gelernt hatte. »Brauchst du irgendetwas? Kann ich dir mit irgendetwas zu Diensten sein?«
    Der Blick des Fremden glitt vom Meer hinüber zu ihm.
    »Guten Tag, Hinck«, meinte der Fremde. »Nein, ich brauche nichts. Aber danke der Nachfrage.«
    Verlegen trat Hinck von einem Fuß auf den anderen.
    »Dann wünsche ich dir … äh … sanfte Wege, Herr«, wählte Hinck eine der üblichen Abschiedsformeln, mit denen man Reisende bedachte.
    Der Hauch eines amüsierten Lächelns huschte über das Gesicht des Gastes.
    »Du brauchst mich nicht zu verabschieden, Hinck. Ich bleibe möglicherweise noch eine Weile.«
    »Was … was heißt denn möglicherweise ?«, erkundigte Hinck sich neugierig. »Wieso weißt du denn nicht, wann du weiterreist?«
    »Oh, das weiß ich schon«, antwortete der Gast. »Ich erkenne den Zeitpunkt, wenn er da ist. Aber ich weiß nicht genau, wann es soweit ist.«
    Nun wurde Hinck forscher.
    »Also wartest du hier auf etwas? Darauf, dass etwas Bestimmtes passiert?«
    Der Gast nickte nur. Und Hinck hakte behutsam nach.
    »Aber wie kann man denn auf etwas warten, von dem man nicht weiß, wann es eintrifft?«, fragte er weiter. »Ich meine, was ist, wenn das, worauf du wartest niemals passiert?«
    »Ach, Wirtsjunge«, seufzte da der Gast. »Du kannst gerne noch ein wenig fragen, aber ich werde dir keine Antwort geben, die dich zufriedenstellen wird. Ja, ich warte hier darauf, dass etwas Bestimmtes geschieht. Und nein, ich weiß nicht wann und ehrlich gesagt nicht einmal ob es irgendwann einmal geschieht. Aber ich hoffe doch sehr darauf, um ehrlich zu sein.
    Und wenn du jetzt weiter fragen solltest, wie man sich auf so ein unsägliches Geschäft mit der eigenen Hoffnung einlassen kann, dann muss ich dir sagen: Es lohnt sich darauf zu warten.
    Wenn die Dinge so geschehen, wie ich es mir erhoffe, dann lohnt es sich auf jeden Fall.
    Denn eines habe ich gelernt in der letzten Zeit: Geduld macht sich nur dann bezahlt, wenn man weiß, worauf es sich zu warten lohnt.«
    Diesmal huschte ein wirkliches Lächeln über die Mundwinkel des Gastes. »Und bevor du fleißig weiter fragst, Hinck: Nein, ich werde nicht mehr dazu sagen. Du weißt jetzt alles, was ich dazu zu sagen habe.«
    Diesmal, war es Hinck, der nickte.
    »Danke, Herr«, sagte er und versuchte, nicht allzu respektlos zu klingen. »Ich denke, ich habe verstanden.«
    Und damit ließ er den Gast in Ruhe. Vorerst zumindest.
    Denn Hinck wäre nicht Hinck gewesen, wenn er nicht eine gewisse Beharrlichkeit an den Tag gelegt hätte. Andere Leute – besonders sein Vater – sahen darin bisweilen so etwas wie Starrköpfigkeit. Aber starrköpfig zu sein, hätte bedeutet, nicht zu wissen, wann eine Grenze erreicht ist. Und Hinck wusste genau, dass er noch keine Grenze erreicht hatte, solange ihm die Ideen nicht ausgingen.
    Denn im Nachbardorf gab es den alten Bermert. Ein bärbeißiger Mann, jenseits der Sechzig. Früher einmal war er Fischer gewesen, wie die meisten hier in den Dörfern der südlichen Küste. Nach dem Tod seiner Frau hatte er jedoch umgesattelt und betrieb nun den winzigen Náia-Tempel am Marktplatz des Nachbardorfes. Jeder Ort im Reich, der vom Meer lebte, hatte mindestens einen kleinen Schrein der Gezeiten-Göttin. Immerhin stand und fiel mit den Fluten alles hier.
    Und der alte Bermert war seit jeher für eine besondere Beschäftigung bekannt: Er sammelte kleine Bilder aller Persönlichkeiten des Ehernen Reiches. Hauptsächlich natürlich von Adeligen, aber auch von verdienten Legaten oder jenen berühmten Marschällen, die in missionarischer Absicht unermüdlich die Verlorenen Lande
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