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Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
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wie kein anderer sonst die Schranken zwischen den Brasilianern niederreißt (oder hätte niederreißen können), sind sie in der Lage, ihre Distanz aufzugeben. Selbstvergessenheit ist ihre Sache nicht.
    Eben darum sind die Bekenntnisse von Dom Casmurro, Assis’ bekanntester Figur, auch alles andere als harmlose Blicke zurück. Sicher: Bento spürt die Last der abgelaufenen Jahre, die Leere eines einsamen Lebens, dem er durch die Erinnerung zu entkommen sucht. Doch je genauer man seine Erinnerungen liest, desto weniger unschuldig erscheinen sie. Ja, mehr noch: Sie stellen sich zunehmend als Rechtfertigung eines aus den Fugen geratenen Lebens heraus. Tatsächlich deutet die jüngere brasilianische Literaturwissenschaft den Roman als ein psychosoziales Porträt des Erzählers, sieht ihn im Kontext einer gesellschaftlichen Situation, in der Bento fast zwangsläufig der werden musste, der er ist. Der Abkömmling einer brasilianischen Oberschichtfamilie konnte in den Umbruchszeiten, in denen er lebte, gar nicht anders als scheitern. Er, der noch im Geist eines uralten, auf der Basis von Sklavenarbeit reich gewordenen Großgrundbesitzertums erzogen wurde, kommt mit der neuen Zeit schlicht nicht zurecht. Er passt nicht in die Wirtschaftswelt der bürgerlichen Berufe, die zu jener Zeit im Entstehen begriffen sind.
    Der Roman lässt in dieser Hinsicht keinen Zweifel. Nach dem Tod ihres Mannes muss sich Bentos Mutter, Dona Gl ó ria, um den Erhalt des Familienvermögens kümmern: Sie verkauft den Hof und die dazugehörigen Sklaven, um fortan von den Erträgen zu leben. Die Familie hat sich also einerseits angepasst; Dona Glória ist durchaus erfolgreich. Auf der anderen Seite aber ist niemand aus der Familie produktiv, trägt durch eigene Leistung zur Wertschöpfung bei. Im Gegenteil: Die Familie lebt auf parasitärer Grundlage, denn einen Teil ihres Reichtums verdankt sie Einkünften, die sie durch Vermietung ihrer Sklaven erzielt. Bento selbst studiert zwar Jura und arbeitet als Rechtsanwalt, doch erfährt man über seine Arbeit nicht viel. Der Gedanke, dass er hauptsächlich vom väterlichen Erbe lebt, drängt sich geradezu auf. Auch ist er nicht von sonderlicher Durchsetzungskraft, wie das Gelöbnis seiner Mutter zeigt. Was der Sohn selbst davon hält, Priester zu werden, diese Frage stellt sich nicht. Bento entkommt diesem Schicksal und wird, mehr oder weniger zufällig, Jurist. Die Diskussionen zu Beginn seines Studiums zeigen, dass er auch etwas ganz anderes hätte werden können. Eines aber ist offenkundig: Bento entscheidet nicht. Über ihn wird entschieden.
    Es sind dies die üblichen Zwänge, denen sich die Kinder brasilianischer Großgrundbesitzerfamilien im 19. Jahrhundert zu fügen hatten. Im Gegenzug garantiert die Familie einen hohen sozialen Status. Wie hoch er ist, zeigt sich gerade im Vergleich zu Capitu. Sie stammt aus ausgesprochen einfachen Verhältnissen. Ihr Vater ist ein kleiner Angestellter in einer dem Kriegsministerium unterstellten Behörde. Sein bescheidenes Vermögen verdankt er einem Lotteriegewinn, den er klug in ein eigenes Haus investiert hat. So wohnen die Familien von Bento und Capitu zwar in unmittelbarer Nachbarschaft, doch ihre Vorgeschichten sind denkbar unterschiedlich. Hier die alteingesessenen, durch Großgrundbesitz reich gewordenen Vertreter der alten Oberschicht – und dort die Repräsentanten des aufstrebenden Bürgertums, das sich nach Kräften müht, seine Zukunft zu sichern. Capitus Hochzeit mit Bento wäre ein Segen: Die Zukunft ihrer Familie wäre sozial wie finanziell gesichert. Aber für eine Hochzeit gilt das Gleiche wie für einen Lotteriegewinn: Es braucht etwas Glück, damit er zustande kommt.
    So ist die Hochzeit die Vereinigung der Gegensätze – wenn auch eine wenig glückliche. Denn Bento, könnte man sagen, ist Anwalt nur im Nebenberuf. Im Hauptberuf ist er Sohn, und zwar weit über den Tod seiner Mutter hinaus. Dona Glória kann sich mit dem Gedanken an die Hochzeit der beiden nur schwer anfreunden. Und liest man Dom Casmurro aufmerksam genug, finden sich viele Hinweise, dass Bento der ablehnenden Haltung der Mutter wenigstens nachträglich zu entsprechen sucht.
    Schon Bentos eigenartiges Ansinnen, sein derzeitiges Haus genauso wie sein Elternhaus einzurichten, zeugt von einer merkwürdigen Bindung an längst vergangene Jahre. Mehr aber noch zeigt es sich in der Erzähltechnik selbst, in all den Schlichen und Kniffen, die Bento nutzt, um den Leser davon zu
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