Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
Vom Netzwerk:
sehr blau und klar. José Dias richtete sich halb auf und sah nach draußen. Nach einiger Zeit ließ er den Kopf sinken und flüsterte: «Wunderschön!» Es war das letzte Wort, das er in dieser Welt sprach. Armer José Dias! Warum sollte ich leugnen, dass ich um ihn weinte?
    144
    Eine späte Frage
    So sollten auch die Augen der Freunde und Freundinnen, die ich in dieser Welt hinterlasse, um mich weinen; doch das ist nicht sehr wahrscheinlich. Ich bin in Vergessenheit geraten. Ich wohne fernab und gehe wenig aus. Auch konnte ich die beiden Enden meines Lebens nicht wirklich verknüpfen. Mein Haus in Engenho Novo bringt mir, obwohl es das aus der Rua de Matacavalos nachbildet, lediglich die Erinnerung an das andere wieder, und das auch mehr über den Vergleich und die Reflexion als über das Gefühl. Aber das sagte ich ja bereits.
    Ihr werdet mich fragen, warum ich, der ich doch das alte Haus in der alten Straße besaß, nicht dessen Abriss verhinderte, sondern es stattdessen nachbauen ließ. Die Frage hätte gleich am Anfang gestellt werden müssen. Doch hier kommt die Antwort. Der Grund ist folgender: Nach dem Tod meiner Mutter wollte ich tatsächlich dorthin ziehen und stattete dem Haus zunächst einen mehrtägigen Inspektionsbesuch ab. Das ganze Haus kannte mich nicht mehr. Der Mastixbaum und die Kirschmyrte, der Brunnen, der alte Wassereimer und der Waschtrog, sie alle wussten nichts über mich. Die Kasuarine hinten im Garten war noch die alte, aber ihr Stamm war nun nicht mehr gerade wie einst, sondern hatte die Form eines Fragezeichens. Und natürlich wunderte sie sich über den Eindringling. Ich ließ den Blick in die Höhe schweifen, suchte nach einem Gedanken, den ich vielleicht dort gelassen hätte, fand jedoch keinen. Im Gegenteil, die Blätter begannen mir etwas zuzuraunen, das ich nicht sofort verstand. Offensichtlich war es der Gesang des neuen Morgens. Neben dieser klangvollen, heiteren Musik vernahm ich jedoch auch ein Schweinegrunzen, das wie eine gezielte philosophische Verhöhnung war.
    Alles war fremd und feindselig. Ich ließ also zu, dass das Haus abgerissen wurde, und später, als ich nach Engenho Novo zog, kam ich auf die Idee, es meinen Erklärungen gemäß von einem Architekten nachbilden zu lassen, wie ich bereits geschildert habe.
    145
    Die Rückkehr
    Nun, als ich bereits in diesem Haus wohnte, brachte man mir eines Tages, während ich mich gerade zum Mittagessen umkleidete, ein Visitenkärtchen mit folgendem Namen: «Ezequiel A. de Santiago».
    «Ist die Person hier?», fragte ich den Diener.
    «Ja, Senhor, der Herr wollte warten.»
    Ich ging nicht sofort zu ihm, sondern ließ ihn gute zehn bis fünfzehn Minuten im Salon warten. Erst dann kam mir in den Sinn, dass es ja angebracht wäre, eine gewisse Begeisterung zu zeigen und loszulaufen, ihn zu umarmen und mit ihm über die Mutter zu sprechen. Die Mutter – ich glaube, das sagte ich noch gar nicht – war bereits tot und beerdigt. Ja, das war sie; sie ruht dort in der alten Schweiz. Ich kleidete mich also eilends fertig um. Als ich mein Zimmer verließ, nahm ich die Haltung eines zugleich sanften und grimmigen Vaters an, zur Hälfte also Dom Casmurro. Im Salon erblickte ich einen jungen Mann, der mit dem Rücken zu mir dastand und das Rundrelief von Massinissa betrachtete. Ich trat ganz leise, ohne ein Geräusch zu verursachen, ein. Dennoch hörte er meine Schritte und wandte sich schnell um. Er kannte mich von den Fotos und lief auf mich zu. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Er war das vollkommene Ebenbild meines jungen Freundes aus dem Seminar von São José, nur ein wenig kleiner und nicht ganz so kräftig, doch sein Gesicht war, obwohl es mehr Farbe hatte, haargenau das meines Freundes. Natürlich kleidete er sich moderner und trat anders auf, doch der Gesamteindruck war genau der des Verstorbenen. Er war das vollkommene Ebenbild Escobars, meines Widersachers; er war das Kind seines Vaters. Ezequiel trug Trauer wegen der Mutter, und ich war ebenfalls schwarz gekleidet. Wir setzten uns.
    «Sie sehen aus wie auf den letzten Bildern, Papa», sagte er zu mir.
    Auch die Stimme war die von Escobar, der Akzent leicht französisch. Ich erklärte ihm, dass ich mich kaum verändert hätte, und begann ihn auszufragen, um weniger selbst reden zu müssen und so meine Gefühle besser unter Kontrolle zu bekommen. Doch genau das belebte sein Gesicht, und immer mehr erstand mein Kamerad aus dem Seminar aus seinem Grabe. Dort saß er, mir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher