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Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
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Vermutungen? Dann wäre Capitu eine Frau, die enorme Schuld auf sich geladen hätte: Sie hätte ihre Familie ohne Not zerstört, wäre mit ihrer Verantwortung aber kaum zurechtgekommen, darum aus dem Leben geschieden und hätte ihren Sohn als Waisen und ihren Mann als verbitterten Witwer hinterlassen. Dann wäre Dom Casmurro ein Beziehungs- oder Familiendrama, ein Roman über eine gescheiterte Liebe und den Versuch, mit solchem Scheitern umzugehen.
    Die Frage ist nur: Hat Capitu Bento wirklich betrogen? Zahllose literaturwissenschaftliche Studien haben sich dieser Frage gewidmet, und alle kamen sie zu demselben Ergebnis: Es könnte sein. Es könnte aber auch nicht sein. Eindeutig sagen lässt es sich nicht. Alles in diesem Roman ist denkbar, sicher ist nichts. Dann aber stellt sich eine andere Frage: Was bezweckt der Erzähler mit seinem Bericht? Was soll diese Litanei eines alten Mannes, der mit sich und seiner Vergangenheit offenbar nicht ins Reine kommt, sich Ereignissen zuwendet, die Jahrzehnte zurückliegen und sich ohnehin nicht mehr ändern lassen? Warum sollte man sich für den zweideutigen Lebensbericht eines Mannes interessieren, der seine besten Jahre ganz offenbar längst hinter sich hat?
    Viele Leser und auch Literaturwissenschaftler haben sich eben diese Frage gestellt: Wozu das Ganze? Der Ärger, der in der Frage mitschwingt, führt allerdings in eine Richtung, die weiterhilft. Fragt man nämlich nach den Motiven Bentos und damit auch nach jenen von Machado de Assis selbst, tun sich mit einem Mal ganz andere Dimensionen auf. Und sie lassen dann auch erkennen, warum Machado de Assis (1839–1908) als einer der Großen seines Landes gilt, als Klassiker der brasilianischen Moderne, der ganz eigene literarische Impulse gesetzt hat.
    Mit Machado de Assis hält der Zweifel Einzug in die Literatur – ein bohrender, niemals nachlassender Zweifel, der sich von allem unterscheidet, was zuvor in Brasilien geschrieben wurde. Machado de Assis war der große literarische Skeptiker seiner Zeit. Er brach mit einer Tradition, die sich bis dahin vor allem durch eines ausgezeichnet hatte: die schwärmerische Hingabe an die Heimat, einen ausgeprägten Patriotismus und den Willen, das Vaterland in den prächtigsten, schillerndsten Farben zu malen. Die Begeisterung war verständlich: 1822 war Brasilien unabhängig geworden, hatte sich von der portugiesischen Kolonialmacht losgesagt. Nun musste und wollte man zeigen, dass man auch ohne das europäische Mutterland bestens zurechtkam, auf jedem Gebiet – auch der Literatur – eigenständige, bewundernswerte Leistungen zustande brachte. Um zu verstehen, worum es den brasilianischen Autoren im Näheren ging, welche Traditionen sie schufen, und wie Machado de Assis mit diesen dann umging, hilft ein kurzer Blick zurück in die brasilianische Geschichte, die langen Jahrhunderte unter der portugiesischen Herrschaft und deren Traditionen, die weit über das Jahr 1822 hinauswirkten. Werfen wir also einen Blick auf die Anfänge des modernen Brasiliens.
    Dessen Geburtsstunde fällt auf ein rundes Datum: das Jahr 1500. Im April jenes Jahres ging ein dreizehn Schiffe umfassender Flottenverband nach Wochen auf hoher See auf Höhe der heutigen Stadt Porto Seguro im Bundesstaat Bahia vor Anker. Das eigentliche Ziel der Expedition war ein ganz anderes: Indien. Doch Pedro Álvares Cabral hatte von seinem König noch einen weiteren Auftrag erhalten. Er sollte während der Fahrt Kurs nach Westen halten, um quasi im Vorüberfahren eine mögliche portugiesische Landnahme in der gerade entdeckten Neuen Welt zu prüfen. Die Expedition hatte Erfolg – und die Seefahrer zeigten sich angetan von dem neuen Land. «Terra de Vera Cruz» nannten sie es, «Land des wahren Kreuzes». Doch die Begeisterung für die Schönheiten der tropischen Natur währte nicht allzu lange. Sehr bald schon interessierten sich die Leiter der nachfolgenden Expeditionen für etwas ganz anderes, nämlich für das reichlich vorhandene Brasilholz, das bei europäischen Färbern sehr begehrt war und mit dem sich entsprechend hohe Gewinne erzielen ließen. Bald nahm das Holz in den Augen der Seefahrer eine solche Bedeutung an, dass sein Name auf die gesamte Kolonie überging. Fortan hieß es nicht mehr «Land des wahren Kreuzes», sondern «Brasilien».
    In aller Deutlichkeit zeigte die Namensänderung, was der frisch entdeckte Landzipfel in den nächsten Jahrhunderten in erster Linie werden sollte: eine grenzenlose Nutzfläche,
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