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Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
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Brise der vergangenen Jahre oder jener gewaltige Taifun, der mit der Elektrizität einen Wettkampf aufnimmt? Es gibt keinen Zweifel, dass die Uhren seit einigen Jahren sehr viel schneller gehen.»
    Brasilien durchlebte bahnbrechende Entwicklungen. Sie prägten zwar den Alltag der Menschen, aber darum noch lange nicht ihr Bewusstsein. Die meisten Menschen lebten auf dem Land und bekamen von der Modernisierung kaum etwas mit. Und die, die in die Städte zogen, hielten meist an den Verhaltensweisen fest, die sie im Umkreis der Zuckerfelder erworben hatten. Gerade die wohlhabenden Brasilianer fühlten sich in ihrem Selbstverständnis noch den alten Zeiten verbunden, der Ruhe des 1889 aufgelösten Kaiserreichs, an dessen Stelle nun die hektische Republik getreten war.
    Machado de Assis war ein sensibler Beobachter und aufmerksamer Chronist seiner Zeit. Mit feinem Gespür nahm er deren Veränderungen wahr und verwandelte sie in seinen Zeitungskolumnen in anmutige, elegante Glossen. Mit feiner Feder griff er die neue Realität auf, in der so viele seiner Landsleute intellektuell noch nicht angekommen waren. Immer wieder widmete er sich den aus diesem Missverhältnis entstehenden Spannungen und Irritationen – sei es, dass er humoristisch beschreibt, wie Passanten sich durch einen kühnen Sprung vor der in bislang noch ungewohntem Tempo heranrasenden Straßenbahn zu retten versuchen, sei es, dass er einen schlecht gelaunten Aristokraten skizziert, der den Sitten der neuen Zeit nichts abgewinnen kann. Kurzum: Machado de Assis hält die gewaltigen Anpassungsleistungen fest, die seine Landsleute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl oder übel erbringen müssen. «Wer jene Zeit nicht selbst miterlebt hat», notiert der brasilianische Literaturkritiker Sílvio Romero (1851–1914) in seinen Erinnerungen, «kann die tiefsten Regungen der brasilianischen Gesellschaft nicht verstehen.» Erstmals, fasst Romero die unruhige Epoche zusammen, sei in jener Zeit der Katholizismus infrage gestellt worden; die Monarchie habe gewankt und sei schließlich gestürzt; der Großgrundbesitz und mit ihm die Sklaverei gerieten in die Kritik; und der verlustreiche Krieg gegen Paraguay (1864–1870) – für die Brasilianer ein nationales Trauma – habe dem Land seine Verwundbarkeit vor Augen geführt. Zugleich habe Brasilien einen grundlegenden kulturellen Wandel durchlaufen. «Positivismus, Evolutionslehre, Darwinismus, Religionskritik, Naturalismus, Einzug wissenschaftlicher Argumente in Poesie und Roman, Entwicklungen der Folklore, neue Methoden in Literaturkritik und Literaturgeschichte, Änderungen im rechtlichen und politischen Denken – all dies sorgte für größte Erregung.»
    So sehnten sich nicht wenige Brasilianer nach den alten Zeiten zurück – besseren und einfacheren Zeiten, wie sie fanden. Voller Nostalgie schwelgten sie in der Vergangenheit, hingen den verflossenen Jahren nach. Eben diese Nostalgie bildet auch das Grundgefühl von Dom Casmurro . In fortgeschrittenem Alter schaut Bento auf seine Jugend zurück. Und es ist alles andere als ein Zufall, dass er seine derzeitige Wohnung genau so hat einrichten lassen wie jene, in der er als Kind lebte. Eine beklemmende Szenerie. Zu ihr passt der Name, den der Erzähler verliehen bekommen hat: «Casmurro» – Bento erklärt es selber – heißt «schweigsamer, eigenbrötlerischer Mensch». Und auch der Zusatz hat seinen Sinn: «Das Dom ist ironisch gemeint, es soll mir einen adligen Anstrich verleihen.» Doch sonderlich weit ist es mit Bentos Ironie nicht her. Sein Anliegen ist ernst. Um nichts weniger geht es ihm als um eine Generalabrechnung mit seinem Leben – einem Leben, das in der Rückschau vor allem auf das Verhältnis zu seiner vor vielen Jahren verstorbenen Frau Capitu zusammenschnurrt. Capitu, die große Liebe seines Lebens: Ob es sein kann, dass diese Liebe ihn betrogen hat? Dom Casmurro nimmt sich vor, in seinen Aufzeichnungen eben dies zu beweisen.
    Zumindest tut er so. Tatsächlich geht es ihm um etwas ganz anderes, nämlich darum, sich selbst, das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Denn man kann seinen Bericht ja auch ganz anders lesen. Nicht Capitu hat die Ehe in Brüche gehen lassen, sondern er selbst, und zwar durch seinen bohrenden, fast obsessiven Verdacht, betrogen worden zu sein. Capitu, so stellt es sich in dieser Lesart dar, hat den Bruch nicht verkraftet und ist darüber gestorben. Vieles deutet darauf hin, dass Bento sich dieser Verantwortung
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