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Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
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war es, die beiden Enden meines Lebens zu verknüpfen und im Alter die Jugend wiedererstehen zu lassen. Doch weder gelang es mir, das wiederherzustellen, was einmal war, noch den, der ich einmal war. Mit anderen Worten, auch wenn das Gesicht das gleiche ist, so ändert sich doch der Ausdruck. Fehlten mir nur die anderen, wäre das nicht so tragisch; über den Verlust seiner Mitmenschen kommt man noch einigermaßen hinweg; aber wer fehlt, bin ich, und diese Lücke ist entscheidend. Was ich hier geschaffen habe, ähnelt – in einem unzulänglichen Vergleich – der Farbe, die man sich in Bart und Haare schmiert und die lediglich den äußeren Anschein bewahrt, wie man bei einer Autopsie zu sagen pflegt; das Innere verträgt keine Farbe. Eine Urkunde, die mir ein Alter von zwanzig Jahren bescheinigen würde, könnte, wie alle falschen Dokumente, vielleicht Außenstehende täuschen, doch nicht mich selbst. Die Freunde, die ich noch habe, sind jüngeren Datums; alle alten Freunde studieren bereits die Geologie der Gottesäcker. Meine Freundinnen kenne ich zum Teil seit fünfzehn Jahren, zum Teil weniger lang, und fast alle glauben sie an ihre eigene Jugendlichkeit. Zwei oder drei von ihnen könnten dies auch ihre Mitmenschen glauben machen, doch ihre Ausdrucksweise zwingt einen oftmals, das Wörterbuch zu konsultieren, und das ist auf Dauer ermüdend.
    Ein verändertes Leben ist nicht notwendigerweise ein schlechteres Leben; es ist eben anders. Das alte Leben erscheint mir heute in mancher Hinsicht weniger zauberhaft, doch hat es gleichermaßen auch das Dornige verloren, das es so beschwerlich machte, und so bewahre ich mir das süße, holde Bild nun in meiner Erinnerung. Ich gehe nur wenig aus und spreche noch weniger. Vergnügungen sind selten. Die meiste Zeit verbringe ich mit Gartenarbeiten und Lesen; ich esse gut und schlafe nicht schlecht.
    Da jedoch alles ermüdet, wurde ich schließlich auch dieser Routine überdrüssig. Ich suchte nach etwas Neuem und kam auf die Idee, ein Buch zu schreiben. Jurisprudenz, Philosophie und Politik kamen mir in den Sinn, doch dafür mangelte es mir an der nötigen Kraft. Dann dachte ich daran, eine «Geschichte der Vorstädte» zu schreiben, die weniger trocken wäre als jene Aufzeichnungen Pater Luís Gonçalves dos Santos’ 3 über die Stadt. Das war zwar ein bescheidenes Vorhaben, erforderte jedoch vorab Dokumente und Datenmaterial, alles fade und langweilig. Da sprachen auf einmal die Köpfe an den Wänden zu mir und ermunterten mich, zur Feder zu greifen und, indem ich darüber berichtete, die alten Zeiten zum Leben zu erwecken, wenn sie es schon nicht vermochten. Vielleicht würde mir ja das Erzählen die Illusion vermitteln, und manche Schatten würden aufsteigen, wie bei dem Dichter, nicht dem aus dem Zug, sondern dem aus dem «Faust»: «Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalte n …» 4
    Diese Idee begeisterte mich so sehr, dass mir noch jetzt die Feder in der Hand zittert. Ja, Nero, Augustus, Massinissa und du, großer Cäsar, der du mich zum Schreiben anspornst, ich danke euch für euren Rat und werde die Erinnerungen zu Papier bringen, die mir in den Sinn kommen. Auf diese Weise werde ich erleben, was ich einst erlebt habe, und mich gleichzeitig an ein größeres Werk wagen. Nun denn, so lasset uns dieses Beschwören der Erinnerungen mit einem denkwürdigen Novembernachmittag beginnen, den ich nie vergessen habe. Es gab zahlreiche weitere, bessere und schlechtere, aber dieser hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Du wirst es verstehen, wenn du es liest.
    3
    Die Eröffnung
    Ich wollte gerade den Gästesalon betreten, als ich meinen Namen hörte und mich hinter der Tür versteckte. Das war in dem Haus in der Rua de Matacavalos, im Monat November, das Jahr liegt schon ein Weilchen zurück, doch ich werde nicht, nur um denen zu gefallen, die keine alten Geschichten mögen, meine Lebensdaten ändern; es war das Jahr 1857.
    «Dona Glória, tragen Sie sich immer noch mit dem Gedanken, unseren Bentinho ins Priesterseminar zu schicken? Dann wird es nämlich allerhöchste Zeit, und vielleicht gibt es sogar jetzt schon eine Schwierigkeit.»
    «Was für eine Schwierigkeit?»
    «Eine große Schwierigkeit.»
    Meine Mutter wollte wissen, was es sei. José Dias hielt einen Augenblick inne, trat an die Tür, um nachzusehen, ob jemand im Flur sei, entdeckte mich aber nicht und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: Das Problem liege im Nachbarhaus, bei den Páduas.
    «Bei den
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