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Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
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Zeit
    Doch nun ist es an der Zeit, zu jenem klaren, kühlen Novembernachmittag zurückzukehren, der so ruhig war wie unser Haus und jener Teil der Straße, in dem wir wohnten. Er stellte den wahren Beginn meines Lebens dar. Alles, was zuvor gewesen war, kam mir vor wie das Schminken und Einkleiden der Bühnendarsteller, das Entzünden der Lichter, das Stimmen der Geigen, die Symphoni e … Nun sollte meine eigene Oper beginnen. «Das Leben ist eine Oper», hat mir ein alter italienischer Tenor erklärt, der hier lebte und star b … Und einmal vermittelte er mir auf so eindringliche Weise seine Definition, dass ich daran glaubte. Vielleicht lohnt es die Mühe, sie hier aufzuführen; es ist nur ein Kapitel.
    9
    Die Oper
    Er hatte bereits keine Stimme mehr, behauptete jedoch hartnäckig, eine zu haben. «Die mangelnde Praxis tut mir nicht gut», sagte er. Sobald ein neues Ensemble aus Europa ankam, ging er zum Impresario und legte diesem die Ungerechtigkeiten des Himmels und der Erde dar. Der Impresario fügte diesen eine weitere hinzu (indem er ihn nicht einstellte), worauf der Opernsänger zeternd und brüllend das Haus wieder verließ. Er trug noch immer den Schnurrbart seiner früheren Rollen. Seine Bewegungen wirkten trotz seines fortgeschrittenen Alters so, als hofierte er eine babylonische Prinzessin. Manchmal trällerte er auch, ohne den Mund richtig aufzumachen, ein Lied vor sich hin, das noch älter oder mindestens ebenso alt zu sein schien wie er selbst. Es gibt schließlich auch gedämpfte Stimmlagen.
    Ein paarmal kam er zu mir zum Abendessen. Eines Abends legte er mir nach einer ordentlichen Menge Chianti wieder einmal seine Definition dar, und als ich behauptete, das Leben könne ebenso gut eine Oper wie eine Seereise oder eine Schlacht sein, schüttelte er den Kopf und entgegnete: «Das Leben ist eine Oper, und zwar eine ganz großartige. Der Tenor und der Bariton kämpfen in Gegenwart des Basses und der Komparsen um den Sopran, wenn nicht der Sopran und der Alt in Gegenwart desselben Basses und derselben Komparsen um den Tenor kämpfen. Ferner gibt es zahlreiche Chöre, Balletteinlagen, und das Orchester ist ausgezeichne t …»
    «Aber mein teurer Marcolin i …»
    «Wa s …?»
    Er nahm einen Schluck Likör, setzte das Glas ab und erläuterte mir mit Worten, die ich hier zusammenfassen werde, die Schöpfungsgeschichte.
    Gott ist der Dichter. Die Musik stammt von Satan, einem jungen Dirigenten mit großer Zukunft, der einst am Himmelskonservatorium studierte. Als Rivale von Michael, Raphael und Gabriel ertrug er die Bevorzugung nicht, die diesen bei der Vergabe der Preise zuteilwurde. Vielleicht reizte aber auch die übertrieben liebliche, mystische Musik seiner Mitstudierenden Satans eher tragischen Geist. Er zettelte eine Rebellion an, die jedoch rechtzeitig aufgedeckt wurde, worauf man ihn des Konservatoriums verwies. Alles wäre wieder gut geworden, hätte nicht Gott ein Opernlibretto geschrieben, das er jedoch gleich wieder verwarf, weil er der Ansicht war, eine derartige Freizeitbeschäftigung vertrage sich nicht mit seiner Unsterblichkeit. Satan nahm das Manuskript mit in die Hölle. In der Absicht zu beweisen, dass er besser sei als die anderen – und vielleicht auch, um sich wieder mit dem Himmel auszusöhnen –, komponierte er eine Partitur dazu und legte diese, als sie fertig war, dem unsterblichen Vater vor.
    «Herr, ich habe die hier gelernten Lektionen nicht vergessen», sprach er zu ihm. «Hier habt Ihr Eure Partitur, hört sie Euch an, verbessert sie, bringt sie zur Aufführung, und wenn Ihr sie Eurer Höhen für würdig erachtet, dann nehmt mich mit ihr zu Euren Füßen au f …»
    «Nein», erwiderte der Herr, «ich will nichts hören.»
    «Aber Her r …»
    «Nichts, habe ich gesagt! Nichts!»
    Satan flehte weiter, zunächst ohne Glück, bis der Herr, müde und von Mitleid erfüllt, die Oper schließlich genehmigte, wenngleich außerhalb des Himmels. Er schuf ein eigenes Theater dafür, nämlich diesen Planeten, und erfand ein komplettes Ensemble mit allem Zubehör, sämtlichen Haupt- und Nebendarstellern, Chören und Tänzern.
    «Hört Euch doch mal die Proben an!»
    «Nein, von den Proben will ich nichts wissen. Es reicht mir, dass ich das Libretto geschrieben habe. Ich bin auch bereit, die Autorenrechte mit dir zu teilen.»
    Vielleicht war diese Weigerung ein Fehler, denn daraus ergaben sich einige Missverständnisse, die durch ein vorheriges Anhören und eine freundschaftliche
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