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Dom Casmurro

Dom Casmurro

Titel: Dom Casmurro
Autoren: Joaquim Maria Machado de Assis
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andere Aufgabe und die Ecken keine andere Verwendung. Es war eine alte Kokospalme, und ich glaubte an alte Kokospalmen, mehr noch als an alte Bücher. Die Vögel, die Schmetterlinge, eine Grille, die den Sommer probte, sämtliche Lebewesen der Lüfte waren derselben Ansicht.
    Liebte ich also tatsächlich Capitu und Capitu mich? Es stimmte, dass ich nicht mehr von ihrem Rockzipfel wich, aber mir fiel nichts ein, was zwischen uns geheim wäre. Ehe sie auf das Internat kam, waren es nur Kindereien gewesen, und als sie von dort zurückkehrte, hatte es eine Weile gedauert, bis sich die alte Innigkeit wieder einstellte, doch seit dem letzten Jahr waren wir uns so vertraut wie früher. Unsere Gesprächsthemen hatten sich nicht verändert. Manchmal allerdings bezeichnete Capitu mich als «hübsch», als «feschen Kerl» oder als «Blume», und manchmal nahm sie meine Hand, um meine Finger zu zählen. Nach und nach kamen mir diese und andere Handlungen oder Worte in den Sinn, das Wohlgefühl, das ich empfand, wenn sie mir mit der Hand durchs Haar fuhr und mir sagte, wie schön sie meine Haare finde. Worauf ich, ohne es ihr gleichzutun, erwiderte, die ihren seien doch viel schöner als die meinen. Capitu pflegte dann mit einem äußerst wehmütigen und melancholischen Ausdruck den Kopf zu schütteln, was umso erstaunlicher war, da ihr Haar wirklich wunderschön war. Darauf nannte ich sie eine «kleine Verrückte». Wenn sie mich fragte, ob ich in der Nacht von ihr geträumt hätte, und ich dies verneinte, erzählte sie mir ihre Träume. Und das waren ganz besondere Abenteuer, bei denen wir durch die Lüfte auf den Corcovado 13 flogen, auf dem Mond tanzten oder Engel uns nach unseren Namen fragten, um sie anderen, neugeborenen Engeln zu geben. In all diesen Träumen waren wir stets zusammen. Meine Träume von ihr waren anders, denn sie spiegelten lediglich unsere Vertrautheit wieder und ließen oftmals nur den Tag Revue passieren, einen Satz, eine Geste. Ich erzählte sie ihr ebenfalls. Irgendwann bemerkte Capitu den Unterschied und sagte, ihre Träume seien schöner als meine. Ich erwiderte nach einem kurzen Zögern, sie seien eben so wie der Mensch, der sie träumt e … Sie wurde rot wie eine Pitanga-Kirsche.
    Ehrlich gesagt verstand ich erst jetzt das Gefühl, welches diese und andere kleine Geständnisse in mir ausgelöst hatten. Es war eine süße, neue Empfindung gewesen, deren Ursache mir verborgen geblieben war. Ich hatte aber weder versucht, sie zu ergründen, noch irgendeinen Verdacht gehegt. Die Augenblicke des Schweigens der letzten Tage, die ich nicht zu deuten gewusst hatte, empfand ich nun als Zeichen für etwas, und auch die Anspielungen, die neugierigen Fragen, die Fürsorglichkeit, die Freude, mit der wir uns an unsere Kindheit erinnerten. Außerdem wurde ich gewahr, dass ich neuerdings mit dem Gedanken an Capitu aufwachte, im Geiste ihre Stimme hörte und beim Geräusch ihrer Schritte zusammenzuckte. Wenn bei mir zu Hause über sie gesprochen wurde, achtete ich stärker als früher darauf, und je nachdem, ob es ein Lob oder eine Kritik war, löste es größere Freude oder stärkeren Kummer in mir aus als zu der Zeit, da wir lediglich Spielkameraden waren. Ich dachte sogar während des Gottesdienstes an sie, zwar nicht durchgehend, aber ausschließlich.
    All dies hatten mir nun José Dias’ Worte enthüllt: Er hatte mich mir selbst eröffnet, und ich verzieh ihm alles, das Schlechte, das er gesagt, und das Schlechte, das er getan hatte, und ebenso das, was aus dem einen oder dem anderen noch erwachsen würde. In diesem Augenblick bedeutete er für mich nicht weniger als die ewige Wahrheit, die ewige Güte oder die anderen ewigen Tugenden. Ich liebte Capitu, und Capitu liebte mich! Meine Beine liefen los und blieben wieder stehen, zitternd und in dem Glauben, die Welt zu begreifen. Dieses erste Pulsieren des Lebens, diese erste Selbsterkenntnis habe ich nie wieder vergessen, und keine spätere Empfindung war je mit dieser vergleichbar. Weil es mein ureigenes Gefühl war, versteht sich. Und weil ich es zum ersten Mal verspürte.
    13
    Capitu
    Auf einmal hörte ich aus dem Nebenhaus jemanden rufen: «Capitu!»
    Aus dem Garten antwortete es: «Mama?»
    Und wieder aus dem Haus: «Komm mal!»
    Ich konnte nicht mehr an mich halten. Meine Beine trugen mich die drei Stufen in den Gemüsegarten hinab und liefen weiter bis zum Nachbargrundstück. Das taten sie eigentlich jeden Nachmittag und Vormittag. Die Beine sind
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