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Ruf ins Jenseits

Ruf ins Jenseits

Titel: Ruf ins Jenseits
Autoren: John Harwood
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Erster Teil
Constance Langtons Erzählung
    Januar 1889
    Wäre meine Schwester Alma am Leben geblieben, hätte ich diese Rufe ins Jenseits, diese Séancen, nie begonnen. Sie starb an Scharlach, bald nach ihrem zweiten Geburtstag, als ich fünf Jahre alt war. An die Zeit vor ihrem Tod kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern: Mama, die Alma auf ihren Knien wippt und dazu singt, wie sie es nie wieder tun wird; ich lese Mama aus meiner Fibel vor, während sie Almas Wiege mit dem Fuß schaukelt; ich gehe neben unserer Kinderfrau Annie her, die den Kinderwagen am Waisenhaus vorbeischiebt, und halte mich dabei am Rahmen fest. Ich erinnere mich daran, wie ich nach einem solchen Spaziergang Alma am Kamin im Wohnzimmer halten durfte, dass ich die Hitze der Flammen auf meiner Wange spürte, während ich sie auf dem Arm hatte. Ich erinnere mich auch daran – aber vielleicht wurde mir das auch nur erzählt   –, wie ich in meinem Kinderbett lag und zitterte, den Blick auf das Fenster gerichtet, das sehr klein und weit entfernt schien, und jemanden weinen hörte, gedämpft, wie durch dicke Baumwolle.
    Ich weiß nicht, wie lange ich selbst krank war, aber in der Erinnerung ist es, als hätte ich nach dem Aufwachen das Haus in Dunkelheit gehüllt vorgefunden und meine Mutter bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Über Monate, während deren mirnur kurze Besuche gestattet waren, blieb sie in ihrem Zimmer. Der Raum war stets abgedunkelt; oft schien sie meine Gegenwart kaum zu bemerken. Und als sie schließlich wieder aufstand und ihr Zimmer verließ – gebeugt wie eine alte Frau, ihr Haar dünn und strähnig   –, blieb sie in finsteren Kummer versunken. Manchmal ließ sie nach mir rufen und wusste dann aber nicht mehr, warum sie mich hatte kommen lassen, ganz so, als hätte sie jemand anderen erwartet. Was ich auch sagte, es wurde von ihr mit derselben leblosen Gleichgültigkeit registriert, und wenn ich still dasaß, konnte ich die Last ihres Grames spüren, die sich auf mich legte, bis ich zu ersticken fürchtete.
    Ich wünschte, ich könnte sagen, dass auch mein Vater trauerte; aber sollte er es getan haben, sah ich keinerlei Anzeichen davon. Mama gegenüber war er immer höflich und besorgt, ganz ähnlich wie Doktor Warburton, der uns von Zeit zu Zeit aufsuchte und kopfschüttelnd wieder davonging. Papa war nie ungehalten oder verärgert, immer hatte er sich ganz in der Gewalt, und genauso wenig, wie er mit ungewachsten Schnurrbartspitzen an die Öffentlichkeit getreten wäre, hob er jemals seine Stimme. An manchem Morgen, wenn ich von Annie meine Milch und meine Scheibe Brot bekommen hatte, schlich ich mich nach unten und beobachtete Papa und Mama durch einen Spalt in der Esszimmertür.
    «Ich hoffe, du fühlst dich heute ein bisschen besser, Liebling?», mag Papa gesagt haben, woraufhin Mama sich müde aufrichtete und entgegnete, ja, ihr sei wohler, und dann las er in der
Times,
bis es an der Zeit für ihn war, sich auf den Weg zum British Museum zu machen, wo er täglich an seinem Buch arbeitete. Zu Abend aß er meist auswärts, und sonntags, wenn das Museum geschlossen war, blieb er in seinem Arbeitszimmer. In die Kirche ging er nicht wegen seiner Arbeit (so erzählte man mir zumindest), und Mama konnte in ihrem Zustand nicht gehen, und so gingen Annie und ich jeden Sonntag alleine.
    Annie erklärte mir, dass Mama trauerte, weil Gott Alma inden Himmel geholt hatte, was ich sehr grausam von Ihm fand. Andererseits, wenn Alma glücklich war und nie wieder krank sein würde und wir eines Tages alle wieder beieinander wären, warum war Mama dann so furchtbar unglücklich? Weil sie Alma so inniglich liebte, antwortete Annie, und es nicht aushielt, von ihr getrennt zu sein. Aber wenn die Zeit der Trauer vorüber wäre, würde Mama sich wieder erholt haben. Solange blieb uns nichts anderes übrig, als Mama zu begleiten, sobald sie sich in der Lage sah, das Haus zu verlassen, und mit ihr zu dem einzigen Ort zu gehen, den sie je besuchte: dem Friedhof neben dem Waisenhaus, wo sie frische Blumen auf Almas Grab legte. Ich verstand nicht, warum Gott Almas Körper hiergelassen und nur ihre Seele zu sich genommen hatte, und wollte wissen, ob Er sich um Mamas Seele kümmerte, bis diese sich erholt haben würde. Aber Annie verweigerte die Antworten auf diese Fragen und vertröstete mich: Wenn ich älter wäre, würde ich das verstehen.
    Annie hatte dunkelbraunes Haar, das sie streng zurückgebunden trug, und dunkle Augen, und sie sprach
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