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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio
Autoren: Sascha Lange
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ein etwas Jüngerer aus der »Hoffmann«. In Berlin angekommen, suchten wir ewig nach einem Parkplatz am Rosenthaler Platz, klärten, in welchem Zimmer wir schlafen konnten, und fuhren dann mit der U-Bahn nach Westberlin. Oft besuchten wir den Polen-Markt, diesen riesigen schmuddeligen Flohmarkt, wo es gebrauchte Jeans für fünf Mark gab. Ich kaufte bergeweise Comics, schließlich hatte ich einiges nachzuholen. Noch heute stapeln sich bei mir in Kisten gut 400 Micky-Maus-Hefte, die ich mir zum Großteil aus Berlin mitgebracht habe. Das war meine Art, mich an den DDR-Zöllnern zu rächen.
    Natürlich gingen wir in Kreuzberg immer schön Döner essen, denn in Leipzig dauerte es verdammt lange, bis die ersten Döner-Buden aufmachten. In den Plattenläden gab es nicht nur den Soundtrack für harte Jungs, also Punk, Metal und Hardcore, sondern auch die Bands, die ich bei Roland Galenza auf Radio DT64 gehört hatte. Abends saßen wir dann mit unseren Berliner Kumpels in Kneipen oder schwatzten bis spät in die Nacht in der »Linie«. Diese Wochenendtrips waren für uns trotz der ausgedehnten Shopping-Touren echteErholungsfahrten. In Berlin mußte man sich nachts nicht nach jedem Auto umdrehen und schauen, ob darin Faschos saßen. Hier konnten wir uns vom Streß zu Hause erholen.
    Morgens gingen wir ins Café »Hackbarth’s« frühstücken, einer der zahllosen neuen Szenekneipen in Berlin-Mitte gleich um die Ecke. Schon das Publikum zu beobachten konnte eine Beschäftigung für Stunden sein: Ballettänzerinnen, Hausbesetzer, Künstler, Touristen. Einen Platz zu bekommen war oft Glückssache. Ein riesiger messingverkleideter Tresen nahm gut die Hälfte des Raumes ein. Im Hintergrund lief Jazzmusik. Dort passierte es auch schon mal, daß irgendein schmuddeliger, aber gutaussehender Bohème-Typ von draußen reinkam und nach einem Blick auf unsere Teller fragte, ob er sich aus den Resten ein Brot machen dürfe. Jedenfalls konnten wir zwei, drei Tage entspannen und waren anschließend wieder fit für unser Leipzig, das uns nun ziemlich provinziell vorkam.
    Hin und wieder überlegten Leute aus unserem Bekanntenkreis, für immer nach Berlin zu gehen, und einige waren tatsächlich schon hingezogen. Dort schien alles so einfach und urban. Berlin war in meinen Augen immer einen Besuch wert, nur leben wollte ich dort nicht. Es ist wie mit einer unerfüllten Liebe. Man sollte nur in Abständen kurz zusammenkommen, um sich den Zauber zu bewahren. So halte ich es bis heute mit Berlin, und ich liebe diese Stadt noch immer.

Zum Schluß
    Weihnachten 1990. Jetzt lebten wir im Westen. Hier in Leipzig. Unter dem Tannenbaum lagen keine Westpakete mehr. Den Grund, uns welche zu schicken, gab es nicht mehr, denn wir konnten uns die ganzen Westsachen jetzt selbst kaufen. Nun merkten wir, daß wirklich eine Zeit zu Ende gegangen war, nämlich die der Westpakete. Von nun an mußten wir uns um alles selbst kümmern.
    In den Folgejahren drang der Westen immer weiter zu uns nach Leipzig und in die Südvorstadt vor. Die ersten Häuser wurden an Westdeutsche verkauft, die Bewohner zogen woanders hin, anschließend wurde alles schick renoviert und danach neu (und teuer) vermietet. Die Luft wurde in der Stadt spürbar sauberer, weil die vielen Chemiebetriebe vor den Toren der Stadt nun geschlossen wurden. Wir freuten uns vor allem über viele bunte Graffiti an den Wänden, denn das erinnerte uns an Westberlin, unseren Maßstab aller Großstädte. Unzählige Konzertplakate klebten jetzt auf der Karl-Liebknecht-Straße. Jeder neue Döner-Laden, jede neue Szenekneipe in der Südvorstadt wurde gleich von uns getestet. Wir waren begeistert von dem Techno-Club »Distillery« in einer alten Brauerei in Connewitz, in den man frühestens nach ein Uhr nachts gehen konnte, denn vorher war dort keine Sau. Gleich beim Schauspielhaus um die Ecke öffnete im Keller einer Galerie der Club »Zündspule«, in den wir nach ausgedehntenKneipentouren gingen und wo wir bis zum Morgengrauen blieben. Hier kannte jeder jeden, und wen man noch nicht kannte, den lernte man kennen. Gute Konzerte gab es im Eiskeller, der jetzt »Conne Island« hieß, in der Nato und im Studentenclub »Moritzbastei«. Das urbane Leben kam zu uns. Genau das hatten wir uns gewünscht.
    Der Streß mit den Faschos ließ in Leipzig ab 1993 merklich nach. Grund war jedoch nicht das konsequente Durchgreifen der neuen Staatsmacht. Zum einen bekamen die Faschos immer öfter selbst aufs Maul, und somit
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