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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio
Autoren: Sascha Lange
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Farbkleckse – und was für welche. Nachdem sich der Umtauschkurs von 5:1 auf 3:1 einigermaßen stabilisiert hatte, kam nach Modern Talking und den Republikanern auf der Montagsdemo nun die nächste Invasion des schlechten Geschmacks von drüben: Fliegende Händler mit lauter billigen und unnützen Sachen. Überall in der Innenstadt standen ihre Verkaufsstände mit Kinder-Walkie-talkies, Reichskriegsflaggen, »Ich bin stolz, Deutscher zu sein«-Aufnähern, bunt bedruckten Leggins, Westzigaretten, billigem Joghurt, Gummibärchen. Offenbar war ich durch Fernsehwerbung, Westpakete und Intershop zu sehr verwöhnt, denn dieses Zeug gefiel mir absolut nicht. Einmal parkte mitten auf dem Marktplatz ein Laster, aus dem heraus an die Passanten kostenlos Beate-Uhse-Kataloge verteilt wurden. Die gingen weg wie warme Semmeln. Das war nicht ganz unverständlich. 40 Jahre lang konnten die DDR-Bürger nur echten Sex machen, jetzt gab es endlich die Möglichkeiten, sich mit Gummipuppen und Vibratoren zu vergnügen. Was für eine sexuelle Befreiung!
    Im Februar tauchte bereits erste Wahlwerbung für die Volkskammerwahl am 18. März auf. Überall hingen Plakate wie »Sozialismus ist Beschißmus« und ähnliches. Die ganze Stadt wurde zugepflastert von den einzelnen Parteien, und fast jedes Plakat war übermalt oder zerrissen, weil der politische Gegner sich dadurcheinen Vorteil verschaffen wollte. Besonders hoch hingen die Plakate der SED-Nachfolgepartei PDS, weil diese, nicht ganz unbegründet, mit den meisten Sachbeschädigungen rechnete.
    Gerade 18 Jahre alt geworden, konnten viele in unserer Clique im März zum erstenmal wählen gehen, auch ich. Es zeichnete sich bereits im Vorfeld ab, daß die Wahl sowieso nur zwischen den Ostablegern der beiden großen Westparteien entschieden werden würde. Die anderen Parteien neben CDU und SPD hatten eigentlich gar keine Chance. Am spannendsten war noch die Frage, wie viele Stimmen die SED-Nachfolgepartei PDS bekommen würde bei einer freien und geheimen Wahl. Viele Punks, die wir vor kurzem kennengelernt hatten, meinten, Wahlen würden ja eh nichts ändern, darum müßte man auch nicht wählen gehen, man könnte maximal den Wahlzettel ungültig machen. Andererseits hatte es natürlich schon eine gewisse Verlockung, durch Ankreuzen einer bestimmten Partei die Wahl wenigstens minimal beeinflussen zu können.
    Doch wen überhaupt wählen, wenn man plötzlich frei entscheiden konnte? Die CDU war uns zu konservativ, zu rechts. Von den lautstarken Anhängern der »Allianz für Deutschland« hatte ich im Oktober 1989 niemanden bei den Demos gesehen. Die kamen erst später, als es nicht mehr gefährlich war. Trittbrettfahrer. Nun hatten sie sich mit Helmuts Unterstützung an die Spitze einer Protestbewegung gesetzt und ließen die großen Anti-Kommunisten raushängen. 40 Jahre lang hatte die Ost-CDU vor der SED gekuscht, und nun behaupteten ihre Anhänger, daß mit ihnen alles besser werden würde. Das roch mächtig nach Verarsche.»Wendehälse« nannte man solche Leute damals passend. Ihnen wurde dennoch erstaunlich schnell verziehen.
    Auch die SPD erschien uns zu »bürgerlich«. Immerhin war die Ost-SPD eine wirkliche Wende-Neugründung ohne personelle Altlasten. Die West-SPD kannte ich aus dem Westfernsehen. Aber alle sagten, die SPD wäre nicht viel anders als die CDU. Die Sozis waren mir einfach zu sehr Realos. Mein Traum vom Herbst 89 war noch ein anderer.
    Ganz klar war außerdem, daß wir nicht die aus der SED hervorgegangene PDS wählen wollten. Wir fühlten uns zwar auch irgendwie als Linke – schließlich wurden wir ja jetzt ständig als »linke Zecken« beschimpft –, aber mit den alten Genossen wollten wir natürlich überhaupt nichts zu tun haben, wir waren ja nicht bescheuert.
    Blieben eigentlich nur noch das Bündnis 90, ein Zusammenschluß aus dem Neuen Forum und anderen DDR-Bürgerrechtsgruppen, oder die Grüne Partei, der Ostableger der West-Grünen. Die schienen noch die meisten Ideen aus dem Herbst 89 im Programm zu haben und mir darum am nächsten zu stehen, obgleich das eher eine rein emotionale Geschichte war. Letztlich hatte ich mich dann für die Grünen entschieden. Meine Stimme beeinflußte die Wahl jedoch in keinster Weise in meinem Sinne. Gewonnen hat dann wie erwartet nicht das Bündnis 90, deren Mitglieder vieles im Herbst 1989 losgetreten hatten, sondern die »Allianz für Deutschland«, Helmut Kohls neuer langer Arm im Osten. »Wer später kommt, den belohnt das
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