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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio
Autoren: Sascha Lange
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konnten wir nichts mehr ändern, fast wie früher. Jetzt machten wieder die »Erwachsenen« Politik, wenn auch andere als vorher. Immerhin durften wir uns zukünftig aller vier Jahre eine neue Partei raussuchen, die uns regieren sollte. Aber an der Basis gab es in den Folgemonaten noch einiges an Freiräumen, und die wollten genutzt werden. Zumindest solange, bis unser neuer Leipziger Oberbürgermeister, ein aus Hannover Zugezogener, uns auch hier auf den Boden der (westdeutschen) Realitäten brachte.
    Immer wieder überlegten wir in der Clique, ob wir nicht auch ein Haus besetzen sollten. Leere Häuser gab es ja genug. Außerdem waren wir alle etwa um die 18 Jahre alt, ein Alter, wo man schon mal darüber nachdenken konnte, von zu Hause auszuziehen. Einige Kumpels lebten bereits in freistehenden Wohnungen nahe der Innenstadt. Doch es fehlte letztlich an der notwendigen Abenteuerlust. Nobi, Triebi und ich waren zum Beispiel von zu Hause Etagenheizungen gewohnt, und nun wieder mit Kohle zu heizen erschien uns als ein zu großer Rückschritt. Außerdem: Meine Schallplatten, mein Kassettenrekorder – das waren alles Schätze, die ich nicht in ein besetztes Haus mitnehmen wollte. Es blieb vorerst beim Pläneschmieden. Außerdem bedeuteteein Haus zu besetzen in dieser Zeit nicht nur die Möglichkeit, billig und unbürokratisch an eigenen Wohnraum, Bandproberäume oder die erste eigene Szenekneipe zu kommen, sondern brachte einen unweigerlich in das Schußfeld von Faschos, die in dieser Zeit tatkräftig versuchten, jegliche sich entwickelnden alternativen Wohn- und Lebenskulturen zu zerstören. Wer um 1990 in Leipzig in einem bekannten besetzten Haus wohnte, mußte sich weniger vor einem Polizeiräumkommando fürchten als vielmehr vor erlebnisorientierten Faschogruppen, die besonders an den Wochenenden mit Autos in der ganzen Stadt umherfuhren und Jagd auf ihnen nicht genehme Menschen machten. Das Faschoproblem kannten wir ja bereits seit einigen Jahren, aber die Gewalt, die uns in jenen Tagen begegnete, toppte alles bislang Dagewesene. Die Polizei kümmerte sich in diesen geschichtsträchtigen Zeiten jedenfalls nicht wirklich um das Problem, und die potentiellen Opfer mußten damit selbst irgendwie klarkommen. Schließlich gab es Wichtigeres zu tun, als sich mit »rivalisierenden Jugendgruppen« zu beschäftigen, wie das offiziell hieß. Das bald im Westen gekaufte Tränengasspray in meiner Jackentasche war hierbei nur eine kleine Hilfe.

Kommunikationsprobleme
    Im Laufe des Jahres tauchten wieder einige von den größeren Typen aus der alten Steinplatz-Clique auf, die Ende 1989 in den Westen gegangen waren. Sie kamen zu Besuch in ihre frühere Heimatstadt und wollten gucken, was sich in letzter Zeit hier getan hatte. Auffallend waren an ihnen zwei Sachen: Erstens trugen alle – wirklich alle – jetzt diese Cowboystiefel, was ziemlich scheiße aussah, drüben aber offenbar gerade der letzte Schrei war. Zweitens redeten sie jetzt auffallend anders, also ihr Dialekt war ihnen irgendwie abhanden gekommen. Das war echt merkwürdig. Vor einem halben Jahr hatten sie noch dieses Leipziger Sächsisch draufgehabt, und nun sprachen sie fast schon Westhochdeutsch. Das stellte eine komische Distanz her. Sie redeten nur von ihren neuen Jobs und dem Geld, das sie drüben verdienten. Mit unseren Storys über Hausbesetzungen und Streß mit Faschos konnten sie nichts anfangen, das war ihnen alles schon zu fremd geworden. Und so wurden wir irgendwie nicht mehr warm miteinander, wie man so schön sagt. Kommunikationsprobleme. Wir sprachen einfach nicht mehr dieselbe Sprache.
    Politik und Kultur waren natürlich bei weitem nicht das einzige, was mich 1990 beschäftigte. Nachdem ich seit Anfang des Jahres nicht mehr mit Droge zusammen war, suchte ich weiter nach der großen Liebe. Tauben auf dem Dach gab es ja genug, besonders in Leipzig.Aber wie die runterlocken, außer mit Steinen zu schmeißen und ihnen beim Wegfliegen zuzusehen? Ich versuchte da und dort mein Glück, aber so richtig entwickelte sich nichts. Ich brauchte Trost. Wenigstens seelischen. Dafür tauchte in regelmäßigen Abständen Bea aus Berlin auf.
    Bea war eigentlich aus Leipzig und vor einem Jahr ab und zu bei unserer Clique gewesen, weil sie auch a uf dem New-Wave-Trip war. Inzwischen hatte sie ihre Lehre als Rinderzüchterin in Neubrandenburg geschmissen und wohnte nun in einem besetzten Haus in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain. Mit Bea stand ich schon
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