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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio
Autoren: Sascha Lange
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gerade wenige und würden ihnen bestimmt eine ordentliche Packung verabreichen können. Endlich hätte man sich mal richtig wehren können, anstatt immer nur wegzurennen oder einzustecken. Andererseits war ich ein Hänfling, völlig ungeübt in Schlägereien und hatte den Wehrdienst an der Waffe verweigert, weil ich Krieg und Gewalt scheiße fand. Doch in diesen Zeiten war das Paradoxe die Realität.
    Mitternacht flogen in der ganzen Stadt Silvesterraketen in die Luft. Jubelstimmung. Wir standen auf den Dächern in der Kälte und schauten den Lichtbögen hinterher. Keiner konnte sich freuen. Die Nazis kamen in dieser Nacht nicht nach Connewitz. Sie hatten sich bereits am Jugendclub »Villa« gegenüber dem Neuen Rathaus ausgetobt und alle Scheiben eingeschmissen.
    Und über Nacht war ich Bürger der Bundesrepublik Deutschland geworden.

Ich steh auf Berlin
    Zu DDR-Zeiten hatte Ostberlin für mich nicht wirklich etwas Interessantes gehabt. Zwar besuchte ich manchmal die Zwillinge in Mitte, aber es mangelte in der Stadt an diesem Flair, welches ich aus Prag und Budapest kannte. Gemeint sind Coca-Cola, Westplatten und Band-Anstecker, Dinge, die für Teenies damals wichtig waren. All das hatte Ostberlin zu DDR-Zeiten nicht zu bieten. Nun gab es Coca-Cola auch in Ostberlin, aber ich interessierte mich nicht mehr sonderlich dafür. Mittlerweile fand ich die Menschen interessanter.
    Nach unserem ersten Besuch in Westberlin waren wir 1990 immer mal wieder kurz in der Stadt gewesen, wir hatten uns die sagenumwobene Oranienstraße in Kreuzberg angeguckt und in den Szenegeschäften Kapuzensweatshirts und Tränengasspray gekauft. Berlin war ein Mythos, eine richtige Großstadt, eine Weltstadt. In Westberlin gab es Szenekneipen, Szeneklamotten, Szenebuchläden, Hausprojekte, Dönerläden, Szenetypen und überall Graffiti, die mich an »Beat Street« erinnerten. Und in Ostberlin schossen besetzte Häuser wie Pilze aus dem Boden. Hier ging die Post ab.
    Wir knüpften Kontakte zu Leuten in einem besetzten vierstöckigen Mietshaus im Stadtteil Mitte in der Linienstraße. Das Haus war, bautechnisch gesehen, in einem miserablen Zustand, aber seine Bewohner waren unheimlich nett zu uns. Viele von ihnen waren schon etwas älter und kamen ursprünglich aus Westdeutschland,aber sie sahen in uns von Faschos geplagte Ossis, und ihr Haus stand uns offen. Das war ein echter Solidarpakt. Von den etwa 20 Bewohnern waren sogar drei waschechte Berliner, eine Seltenheit in dieser Stadt. Kamen wir zu viert oder zu fünft zu Besuch, räumte irgend jemand sein Zimmer für uns und pennte woanders. Hier lernten wir auch, im Sitzen zu pinkeln. Im ersten Stock befand sich eine große Gemeinschaftsküche mit einem riesigen, immer unaufgeräumten Tisch voller Tageszeitungen und Frühstückskram. Dort saßen wir stundenlang und unterhielten uns über alles mögliche. Kaum einer in diesem Haus ging richtig klassisch arbeiten. Man studierte, machte eine Ausbildung, jobbte, lebte von Sozialhilfe oder versuchte sich als Künstler durchs Leben zu schlagen. Langweilen tat sich jedenfalls keiner. Unsere neuen Freunde zeigten uns hautnah, daß man seine eigene Wertigkeit auch noch anders messen konnte als über den Verkauf seiner Arbeitskraft. Viele waren in linken politischen Gruppen aktiv, so wie Joschka Fischer in den 70ern.
    Jeder im Haus hatte ein eigenes Zimmer, welches individuell gestaltet war. Dennoch gab es eine gewisse Standardausstattung, die ich später auch in vielen WGs fand: Eine große Matratze auf einem Podest, ein Regal für die Klamotten, Schreibtisch, Stuhl und im Raum verteilt jede Menge politische Bücher, einige Comics und linke Szenezeitschriften. An den Wänden hingen Demo-Plakate und Urlaubsfotos aus dem Süden. Nicht fehlen durften eine alte silberne Hi-Fi-Anlage und ein paar Punkplatten. Je nach Mentalität des Bewohners oder der Bewohnerin war das Zimmer schön aufgeräumt oder ziemlich wüst. An einer Zimmertür las ichmal den Spruch »Anarchie und Luxus«. Das erinnerte mich an meine DDR-Zeit und erschien mir ein praktikables Lebensmotto.
    Meist fuhren wir einmal im Monat übers Wochenende nach Berlin mit einem uralten gelben Golf, den ich mir im Frühjahr 1991 in Kreuzberg gekauft hatte. Meine Eltern konnten sich erst mit Mitte Vierzig ein Auto kaufen, einen Wartburg. Ich fuhr mit 19 schon eine Westkiste. So hatten sich die Zeiten geändert. Nobi war oft dabei, aber auch neue Kumpels aus Wendezeiten wie Felipe und Klaus oder Kalle,
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