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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio
Autoren: Sascha Lange
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Parkplätze weg. So war das 1989 aber nicht gemeint!
    Ich weiß das alles, weil ich hier immer noch wohne, natürlich nicht mehr bei meinen Eltern, aber auch nichtweit von ihnen. Jetzt wohnen hier vor allem die »Kulturszene« und die Volvo-Volvic-Wohlfühlpulli-Fraktion (eine Abspaltung der Generation Golf), und auf der Karl-Liebknecht-Straße gibt es seit einigen Jahren jede Menge Szenekneipen und Szenegeschäfte. Ich hatte immerhin das Glück, nicht dem schönen Großstadtleben hinterherziehen zu müssen, es kam einfach zu mir in meine Südvorstadt.
    Wenn ich heute das Viertel meiner Kindheit und Jugend in einem Anfall sentimentaler Erinnerungen abfahre, gelingt der Nostalgietrip nur noch teilweise, denn die Zeit von damals wurde optisch nicht konserviert. Die Häuser stehen zwar alle noch, nur wenige neue wurden in den 90ern hier gebaut, aber es hat sich trotzdem alles verändert. Früher hatten die meisten Häuser eine abgeblätterte Fassade in einem schmutzigen Einheitsgrau, und nur das Grün der Blätter oder ganz frischer Schnee brachte Farbe. Jetzt sind alle Häuser aufwendig saniert, und jedes Detail an der Jugendstilfassade wurde wieder herausgearbeitet. Die Häuser sehen jetzt zu perfekt aus, kulissenartig, ohne Seele. Die ganze Patina ist verschwunden. Wenn ich an den Wohnungen meiner damaligen Mitschüler vorbeiradle, weiß ich, daß sie dort nicht mehr zu Hause sind. Zeit und Arbeit haben sie fortgetragen. Die Häuser sind noch da, aber die Bewohner wurden nahezu komplett ausgetauscht. Mein altes Wohnviertel erscheint mir dann wie ein verlassenes Nest. Alle sind flügge geworden und ausgeflogen. Die meisten erst nach 1990.

Ortsbestimmung
    Leipzig war zu Beginn der 70er Jahre eine Stadt mit gut 600 000 Einwohnern. Bis zum Herbst 1989 sollten über 100 000 Menschen der Stadt den Rücken kehren – nicht selten mit Reiserichtung Westen. Die meisten Kriegsschäden waren zu meiner Zeit schon beseitigt, zahlreiche Neubauten im 60er- und 70er-Jahre-Stil schlossen die Lücken. Nur hier und da sah man noch eine Ruine aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Verfall der Stadt ging dennoch unaufhaltsam weiter. »Ruinen schaffen ohne Waffen« hieß das in den 80ern im Volksmund in Anlehnung an eine Losung der westdeutschen Friedensbewegung. Die Alliierten hatten 1943 via Luftpost beträchtliche Vorarbeiten geleistet, und den Rest besorgte die kommunale Wohnungsverwaltung.
    Die Stadt war umgeben von Tagebauen und chemischer Industrie. Die Umweltbelastung war entsprechend hoch. Hinzu kam in der kalten Jahreszeit der Dreck der zahllosen Öfen, denn in Leipzig heizte man die Altbauten wie überall in der DDR mit Kohle. Wollte man auf dem Balkon Wäsche aufhängen, mußte man immer erst eine schwarze Rußschicht von der Leine abwischen.
    Meine Eltern und ich wohnten, zunächst zusammen mit meiner Oma mütterlicherseits, in einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Lößniger Straße. Nur einen Steinwurf entfernt sind die Gleisanlagen, welche zum Bayerischen Bahnhof führen. Damals kam manvon dort gerade mal bis Zwickau, aber er war immer noch der »Bayerische« Bahnhof. Auch der Schlachthof, er hieß zu meiner Zeit bereits »Delicata«, war nicht weit entfernt. Die Laster, die das Schlachtvieh dorthin transportierten, prägten zeitweise den Geruch ganzer Straßenzüge. Gleich vor unserer Haustür lag der »Knochenplatz«. Der hieß so, weil man von ihm aus die Knochenberge des Schlachthofes, die sich neben den Gleisanlagen türmten, sehen und bei günstiger Windrichtung auch riechen konnte.
    Die Lößniger Straße hat noch heute ihr holpriges Kopfsteinpflaster, über das damals immer die Kohlenlaster von einem nahe gelegenen Verladebahnhof in der Kohlenstraße polterten, vor allem in der kalten Jahreszeit. Da lag es auf der Hand, daß auch die Straße drekkig war und die parkenden Autos ebenfalls. Uns störte das nicht allzu sehr, denn wir besaßen kein Auto. Zwar hatten meine Eltern 1979 den Kauf eines PKW Wartburg beantragt, mit seiner Auslieferung war jedoch frühestens 1994 zu rechnen.
    Manchmal kam es vor, daß die Laster nicht normale Briketts geladen hatten, sondern den hochwertigeren Koks, mit dem man den Ofen garantiert heiß kriegte. Wenn die Laster wegen der zahlreichen Schlaglöcher einige kostbare Koks-Stücke vor unserem Haus verloren hatten, rannten die Anwohner mit einem Eimer auf die Straße und sammelten sie ein. Daß man noch viel mehr bekommen könnte, wenn man dafür auf die Straße gehen würde, hatten die
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