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DJ Westradio

DJ Westradio

Titel: DJ Westradio
Autoren: Sascha Lange
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die uns im Sommer viel Schatten spendeten. Angrenzend befand sich ein großes Grundstück mit freistehenden Garagen. Entweder spielten wir dort Verstecken oder kletterten auf eines der Dächer und hüpften von Garage zu Garage. Kam einer der Besitzer, legten wir uns flach auf das Dach und hofften, daß wir nicht erwischt wurden. Außerdem gab es da noch die anderen Kinderbanden aus den Nachbarhöfen, gegen die wir unser Revier verteidigen mußten.
    War das Wetter beschissen, spielte ich in meinem Zimmer. Die kleinen Playmobil-Kataloge hatten eine Menge Begehrlichkeiten in mir geweckt, die unsere familiären Westkontakte jedoch nur zum Teil abdecken konnten. Darum hatte ich mir mit der Zeit ein großes Lager an kleineren Pappkartons und Schachteln angelegt, aus denen ich dann für meine Playmobil-Figuren Ritterburgen und Raumschiffe bastelte. Mein größter Kinderwunsch war das Playmobil-Piratenschiff. Stundenlang schaute ich mir die winzigen Bilder meines zigarettenschachtelgroßen Kataloges an und träumte mich an Bord. Aber meiner Westoma war das Schiff zu teuer. Trotzdem wollten einige verwegene Playmobil-Piraten auf Kaperfahrt gehen. Aus einem alten Schuhkarton entstand schließlich in meiner Kinderzimmerwerft ein Segelschiff. Für die Strickleitern zerschnitt ich ein altes Einkaufsnetz. Optisch konnte es natürlich mit dem Original nicht annähernd mithalten, dafür hat es sich bei unzähligen Seeschlachten auf meinem Teppichboden tapfer geschlagen – und ist dann irgendwo im Bermuda-Dreieck zwischen Bett, Schrank und Schreibtisch untergegangen.

Leipzig zur Messe
    Über weite Strecken des Jahres war Leipzig eine Stadt wie jede andere Stadt in der DDR. Doch Leipzig wäre nicht Leipzig, wenn es nicht die Messe gegeben hätte. Zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, wurde die Stadt für jeweils eine Woche zur internationalen Messe-Metropole, und Heerscharen von Handelsvertretern und Managern strömten vor allem aus dem Westen in unsere Stadt. Das war schon seit Jahrhunderten so, und auch die Tatsache, daß in Leipzig nun der Sozialismus täglich siegte, hatte daran nichts geändert.
    Bereits Wochen vor der Frühjahrs- und Herbstmesse begann ein emsiges Treiben, um die größten Schandflecken der Stadt zu kaschieren. Da wurden zum Beispiel an den Hauptverkehrsstraßen die Erdgeschoßzonen einiger Häuser frisch gestrichen, damit die Westbesucher aus den Autos heraus einen nicht ganz so trostlosen Ausblick hatten. Ab dem ersten Stock ging hingegen, von den Besuchern weitgehend unbemerkt, der Verfall weiter. Besonders die Häuser an der »Protokoll-Strecke« – der Straße, auf der DDR-Chef Honecker mit seinem Westauto zur Eröffnung der Messe in die Stadt einfuhr – waren hübsch angemalt. Der alte Mann sollte in dem Glauben gelassen werden, daß der Sozialismus planmäßig aufgebaut werde und nicht schon längst wieder zerfiel.
    Auch mußten noch schnell die schlimmsten Schlaglöcher geflickt werden, denn die eleganten Westschlittenwaren für solche Buckelpisten nicht konzipiert. Der Fluß Pleiße, der durch das Leipziger Zentrum fließt, war bereits in den 50er Jahren eingemauert worden, weil die Abwässer der chemischen Industrie vor den Toren der Stadt das Wasser in eine stinkende Brühe verwandelt hatten.
    In den Restaurants wurden für die Zeit der Messe die Speisekarten gewechselt. »Messepreise« wurden festgelegt – alles wurde teurer, denn auch im Sozialismus wollte man mal was verdienen. Die Regale in den Geschäften wurden aufgefüllt, damit es nicht ganz so nach rumänischen Verhältnissen aussah. Mit etwas Glück kam man in dieser Zeit an Sachen ran, die es sonst das restliche Jahr nicht zu kaufen gab.
    Auch die Leipzigerinnen und Leipziger selbst bereiteten sich voller Vorfreude auf die Messe und ihre Besucher vor. Außer im Hotel übernachteten viele Geschäftsleute von drüben in Privatquartieren. Die Wohnungen wurden auf Hochglanz poliert und teilweise komplett umgeräumt, die Familie rückte in der Abstellkammer zusammen, und in den restlichen Zimmern wohnten nun die Mitarbeiter der großen und kleinen Westfirmen. Tagelang beanspruchten die Gastgeber ihrerseits alle Geschäftsbeziehungen, um ordentliche Wurst, gutes Export-Bier und andere feine Lebensmittel im Kühlschrank zu haben, denn die Messegäste sollten sich ja wie zu Hause fühlen. Dafür brachten sie dann Geschenke mit, und natürlich bezahlten sie auch ihr Quartier nicht selten mit D-Mark. Neben dem persönlichen
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