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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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an einem Verriss gefeilt hat. Als sie gingen, rief Sollertinski ihm einen Gruß zu, während Schostakowitsch einen raschen Blick in das geöffnete Notizbuch warf. » Anmaßend «, las er dort. » Ungelenk . Mehr Farce als Komödie. Die Melodien schlaffer als ein feuchtes Taschentuch .«
    Druskin, der seine Neugier bemerkte, schlug das Buch zu.
    »Ach, kommen Sie!«, sagte Schostakowitsch. »Was immer man Prokofjew für Sünden vorwerfen mag – dass er ein seltenes Talent für Melodien hat, können Sie nicht leugnen.«
    Druskin zuckte die Schultern. »Pech für Sergej Prokofjew, dass nicht Sie die Kritik schreiben.«
    Schostakowitsch starrte in Druskins sprödes, graues Gesicht. »›Sei gütig, denn jeder, dem du begegnest, schlägt eine große Schlacht.‹«
    Druskin wirkte verblüfft.
    »Philon von Alexandria«, sagte Sollertinski schroff, als er die Tür aufstieß und in das kalte, helle Licht trat. »Mein Gott, es ist ja schweinekalt.«
    »Der Frühling lässt dieses Jahr in der Tat auf sich warten«, stimmte Schostakowitsch ihm zu und zog die Schultern ein.
    Sollertinski schlug den Kragen seines Jacketts hoch, dasmit seinen von Schlüsseln ausgebeulten Taschen und den vielen losen Fäden mindestens zehn Jahre alt aussah, obwohl er es erst sechs Monate zuvor gekauft hatte. »Geht es dir auch gut?« Er zog sich den Mantel an. »Ich könnte schwören, ich hätte dich eben Herrn Prokofjew verteidigen hören.«
    »Prokofjew hat die Seele einer Gans und das Talent eines Truthahns«, sagte Schostakowitsch achselzuckend. »Trotzdem, er ist einer von uns, und wir Komponisten müssen uns gegen den Feind verbünden.«
    »Jetzt redest du schon in der Sprache des Krieges. Geh besser nach Hause.« Sollertinski packte seine Hand, küsste ihn auf beide Wangen und beschwor ihn aufzupassen, nicht nur auf seine Ehe, sondern auch auf sich selbst, immerhin sei er der beste Trinkkumpan in der ganzen Stadt und nebenbei auch ein einigermaßen begabter Komponist.
    Schostakowitsch wandte sich schon zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um. »Weißt du, was das Schlimmste an dieser ganzen elenden Verbrüderung mit den Deutschen ist?«
    »Nein, was denn?« Sollertinskis Frage wehte auf einer Wodkabrise zu ihm herüber.
    »Dass wir so viele Jahre den kriegswichtigen Wagner ertragen mussten«, sagte Schostakowitsch und marschierte davon.
Vorfreude
    Karl Iljitsch Eliasberg, allgemein als Elias bekannt, saß da und zählte, wie oft seine Mutter vor dem Schlucken kaute. Zehn. Schlucken . Zwölf. Schlucken . Eine von Ärzten empfohlene Methode, die die Verdauung fördern sollte. Dennoch, sie aßen ja nur eine Art Püree, das er aus Steckrüben gekocht hatte, stundenlang hatte er es gekocht, bis es aus Rücksicht auf das lückenhafte Gebiss seiner Mutter zu einem geschmacklosen grauen Mus geworden war.
    Er konzentrierte sich darauf, seine eigene Portion möglichst geräuschlos zu essen, in der Hoffnung, seine Mutter würde seinem Beispiel folgen. Selbst wenn er allein war, aß, trank und bewegte er sich so leise, wie er konnte, als wollte er die unbelebten Gegenstände um sich herum nicht stören. Die Welt lief auf einem Gleis, er selbst auf einem anderen. So war es schon immer gewesen.
    Fünfzehn. Schlucken ! Wie konnten so wenige Zähne, die auf verflüssigtem Wurzelgemüse herummanschten, so viel Lärm machen?
    »Mutter!«, entfuhr es ihm, schärfer als beabsichtigt.
    Seine Mutter blickte auf. Sie hatte sich die Haare noch nicht frisiert; gräuliche Strähnen hingen ihr wie Flechten bis über die Schultern. Der Anblick verstimmte Elias noch mehr. Wie auch immer der Zustand der Welt im Großen sein und wie schnell Europa im Chaos versinken mochte, für Verwahrlosung gab es keine Entschuldigung, selbst um acht Uhr morgens nicht.
    »Karl?« Ihre Augen waren so blass wie die Briefumschläge, die sie Tag und Nacht mit sich herumtrug.
    »Schon gut.« Lautlos aß er seinen Teller leer.
    »Ich hatte gehofft, es gäbe heute Morgen frische Brötchen.« Seine Mutter stupste ihren Brei mit dem Löffel an. »Hatten wir dieses Zeug nicht schon gestern zum Mittagessen?«
    »Ja, Mutter«, sagte er ausdruckslos.
    »Nicht dass es nicht schmecken würde«, räumte Frau Eliasberg ein. »Aber heute hätte ich doch gern ein wenig Brot gehabt.«
    Elias legte den Löffel in einem präzisen Neunzig-Grad-Winkel zur Tischkante neben seinen Teller. »Ich hatte keine Zeit, mich heute Morgen in die Brotschlange zu stellen. Oder gestern Abend Teig anzusetzen. Bitte
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