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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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Prolog
    Ich wurde ohne Herz geboren.
    Das glauben sie jedenfalls. Ich höre ja auf den Proben, was sie sagen. Zum Musikmachen reicht ihre Atemluft kaum – da kann ich schmeicheln und betteln oder poltern wie Donner, es nützt alles nichts. Aber wenn sie über mich tuscheln, dröhnen ihre Stimmen durch den Saal, als träfen Spitzhacken auf Eis.
    Ein Dirigent muss abseitsstehen. Das ist Teil der Aufgabe, des Privilegs, der Bürde. Der Schritt zum Nicht-Gemochtwerden ist klein. Mich kümmert das nicht. Genauer: Es kann mich nicht kümmern. Für den Luxus, beleidigt zu sein, fehlt mir gegenwärtig die Kraft. Sollen sie doch reden, soviel sie wollen – über meine Hakennase, meine schmalen Lippen, meine altmodische Brille. Sollen sie sich über mein Beharren auf Pünktlichkeit ruhig lustig machen. So hart, wie ich sei, müsse ich wohl mit dem großen Führer unserer gefürchteten Regierung verwandt sein! (Sie haben sich angewöhnt, solche Sachen tonlos zu sagen, hinter vorgehaltener Hand, aus Angst, Stalins Leute könnten an der Tür lauschen.) Vielleicht – das äußern sie schon lauter – ähnelte ich in meiner abweisenden Art aber auch eher Hitler, dem größten Feind unseres Landes. Ich höre diese Vergleiche und finde sie lästig, wenn auch kaum überraschend. Vom Beginn meiner Karriere an hat man mir immer wieder vorgeworfen, ich sei streng, fordernd, feindselig – und, ja, diktatorisch.
    Was ist es, das ich vor meinen Musikern verbergenmuss? Dass ich, Karl Iljitsch Eliasberg, einmal so gefühlvoll war wie jeder andere. Dass ich an einem Junitag vor vielen Jahren, als der helle Staub wie lange zitternde Gardinen in der Luft tanzte, die hohen Fenster weit geöffnet waren und Sonnenlicht die Marmorhalle erfüllte, auf der geschwungenen Treppe des Konservatoriums stehen blieb und mir, während ich zuhörte, das Herz aufging. Vor Neid, vor Bewunderung, vor Liebe.
    Mein Widersacher, mein Freund. Über die Jahre ist er beides für mich gewesen. Seinetwegen bin ich heute hier, verhöhnt, verhasst, vermeintlich herzlos. Hätte ich die Kraft dazu, dann würde ich lachen, so paradox ist das. Natürlich habe ich kein Herz! Ich habe es ja vor vielen Jahren, auf jener Treppe in Leningrad, Schostakowitsch geschenkt.

TEIL I
    Frühling – Sommer 1941
Das Klopfen an der Tür
    Ihm war, als hätte er sein Leben lang auf das Klopfen an der Tür gewartet. Im Schlaf hörte er es gedämpft an die Oberfläche seiner Träume pochen. Bei der Arbeit hörte er es im drängenden Grollen der Pauken oder im scharf gezupften Pizzicato. Er hörte es in seinen eigenen Schritten auf der Straße, sodass er ihm, selbst wenn er rannte, nie entkam.
    Tag und Nacht folgte ihm die Angst wie ein störrischer streunender Hund.
    Schostakowitsch! Schostakowitsch! Rief da jemand seinen Namen? Mühsam öffnete er die Augen. Das Zimmer war an den Rändern seines Blickfelds verschwommen, rund um einen gleißenden Fleck in der Mitte herum, wo der Schreibtisch stand.
    »Nina?«, rief er, doch seine Stimme war belegt von halb erinnerten Träumen.
    Er griff blind nach seiner Brille, tastete auf der Matratze und dem niedrigen Hocker neben dem Bett herum. Den Arm zu heben strengte ihn an; seine Finger fühlten sich ganz schlaff an, ohne die gewohnte Kraft. Er hatte bis spät in die Nacht gearbeitet und abgesehen von etwas hartem, in Tee getunktem Roggenbrot seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Das Gute an Hunger und extremer Müdigkeit war, dass sie die Angst milderten. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte – war es das Klopfen gewesen? Wenn sie ihn jetzt mitnähmen, wäre er beinahe erleichtert.
    Seine Finger fanden die Stahlbügel seiner Brille, dann die tröstliche Rundung der Gläser. Er schob die grobe graue Decke weg – angeblich ein Privileg. Aber auch ein Privileg konnte kratzen.
    Sobald er die Brille aufgesetzt hatte, löste sich das weiße Flimmern auf. Die schäbigen Wände traten zurück, der Raum hielt den Atem an. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, was er gehört hatte – jemanden auf der Straße? Oder bloß das Klappern des losen Fensterrahmens?
    »Nina?«, rief er noch einmal. Er schwang die Beine über den Bettrand, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schlurfte zur Tür.
    Vorsichtig spähte er in das andere Zimmer; es war leer.
Die Nachricht
    Unten in der Gemeinschaftsküche eine nackte Glühbirne. Er stieß mit dem Kopf dagegen, wie immer, und fluchte. Der durchdringende Geruch von Reinigungsmittel, Kohl und billigem Fleisch
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