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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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der Verdauung«, sagte er. »Vielleicht fühle ich mich deshalb so komisch.«
    »Warte, bis du das Neueste gehört hast«, sagte Sollertinski. »Das wird dich schon zum Scheißen bringen.«
    »Was ist denn passiert?« Wegen der Kälte und der grellen Sonne und des Gefühls, in seiner Wohnung etwas Unerledigtes zurückgelassen zu haben, hatte Schostakowitsch gar nicht mehr daran gedacht, dass sein Freund ihm etwas erzählen wollte.
    Sollertinski beugte sich vor, begrub den kleinen runden Tisch förmlich unter sich. Er hob die prächtigen Brauen, nahm einen großen Schluck Wodka und bewegte ihn geräuschvoll zwischen den Wangen hin und her. Doch als er sprach, war seine Stimme so leise, dass Schostakowitsch ihn kaum verstand.
    »Was? Wer verlässt die Stadt?«
    Sollertinski hob auf verschwörerische Art einen Finger an den rechten Nasenflügel. »Mein Schneider hat es mir heute Morgen erzählt. Anscheinend hat Herr Lehmannletzte Woche eine große Bestellung storniert. Und Herr Ziegler am nächsten Tag ebenfalls.«
    Schostakowitsch schüttelte den Kopf. »Zwei Deutsche stornieren ihre Anzugbestellungen. Na und?«
    »Zwei deutsche Diplomaten «, korrigierte ihn Sollertinski. »Zwei hochrangige Deutsche haben seit langem bestehende Aufträge bei einem Leningrader Schneider storniert, dessen Ruf so hervorragend ist, dass man vor Neujahr unmöglich noch einen Termin bei ihm bekommt. Ein absolut präziser, brillanter Schneider, der nicht mal dann mit heißer Nadel nähen würde, wenn seine Frau ins Armenhaus gesteckt zu werden drohte. Zwei deutsche Diplomaten haben kurzfristig Bestellungen bei Juri Davidenko storniert, dessen Warteliste so lang ist wie die Wolga!«
    »Bist du sicher?«, fragte Schostakowitsch langsam. »Absolut sicher?«
    »Allerdings. Ich habe es selbst überprüft. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich Davidenko bei etwas Wichtigerem als dem Zuschnitt meiner Hose Vertrauen schenken würde.« Sollertinski klang leicht ungeduldig, als spräche er mit einem seiner dümmeren Musikwissenschaftsstudenten. »Nachdem wir meine Schrittlänge ermittelt hatten, beschloss ich, dass die Lehmanns unbedingt frisches Brot brauchten. Und zwar auf der Stelle.« Er hielt inne, um noch einen Schluck Wodka zu trinken. »Ich habe ihnen also ihr Frühstück gekauft, bin zu ihnen gegangen und habe geklingelt.« Er machte wieder eine Pause, dieses Mal um der Wirkung willen. »Ich habe einmal geklingelt, zweimal, dreimal.«
    »Und?«
    »Sie waren weg. Und damit meine ich nicht, dass sie einen Sonntagsspaziergang machten. Sie sind auf und davon, für immer. Die Wohnung steht leer.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ich habe natürlich durchs Schlüsselloch gespäht.«
    »Iwan Sollertinski! Man hätte dich sehen können! Du solltest an deine Stellung denken.«
    »Zuerst habe ich nur das Ohr an die Tür gelegt und gelauscht«, protestierte Sollertinski. »Und tiefe Stille vernommen. Kein Stühlescharren, kein quengelndes Gör. Daraufhin habe ich durchs Schlüsselloch geguckt. Hauptsächlich aus Sorge, dass ich einen ganzen Laib frisches Brot allein aufessen müsste. Was ich dann im Laufe des Vormittags beinahe doch fertiggebracht habe.« Er rülpste wohlig. Dass er einer der gebildetsten Männer Leningrads war, hielt ihn nicht davon ab, bisweilen alle Manieren zu vergessen.
    Schostakowitsch sah sich um. Der Schankraum war leer, bis auf den spitznasigen Michail Druskin, der sich tief über sein Notizbuch beugte und bestimmt gerade die Aufführung von Prokofjews Orchestersuite niedermachte, welche die Philharmoniker kürzlich gespielt hatten. »Die Deutschen ziehen also ihre Leute ab?«
    »So interpretiere ich das jedenfalls. Man kann nur hoffen, dass ich damit falschliege.« Sollertinski, der sonst fast alles mit einem Lachen quittierte, schien sich ausnahmsweise einmal zu ärgern – oder war es nur der von Druskins Tisch herüberziehende Rauch, der ihn die Augen zusammenkneifen ließ?
    »Ich muss pinkeln.« Schostakowitsch schob seinen Stuhl zurück und schlenderte zu der schmuddeligen Toilette. Am Pissoir stehend, blickte er auf den langen, vertrauten Sprung im Porzellan. In der Vergangenheit hatte er darin wahlweise einen Horizont über einem Weizenfeld gesehen oder die dünne graue Linie, die aus dem Schornstein eines Dampfschiffs aufstieg. Heute war er so aufgewühlt, dass seine Brille beschlug und er überhaupt nichts sah.
    Sollertinski kam hereingeschlurft und drehte das Wasser auf. »Es mag zwar eine schlechte Nachricht für uns
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