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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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mir ja meinen Haferbrei selbst!«
    »Und was ist mit Nina? Wie geht es der lieben Nina?«
    Schostakowitsch ließ den Löffel fallen, und etwas Brei spritzte ihm auf die Hemdbrust.
    »Ich habe sie heute morgen fortgehen sehen«, sagte Irina nachdenklich. »Mit den Kindern. Ich glaube, sie hatten Reisetaschen dabei. Vielleicht wollen sie Verwandte besuchen?«
    Schostakowitsch ging um den Tisch herum, stieß sich erneut an der Glühbirne. Für eine so kleine Frau war Irina Barinowa erstaunlich geschickt darin, Fluchtwege abzuschneiden. »Sie müssen mich jetzt wirklich entschuldigen.« Er machte eine etwas ungestüme Geste mit dem Topf. »Nichts ist schlimmer als kalter Haferbrei zum Frühstück.«
    »Frühstück?« Irina hob erneut die schrumpelige Hand an die Brust. »Mein Vater war gewaschen und rasiert und hatte bereits einen Gang durch den Park hinter sich, wenn das Frühstück serviert wurde, und zwar um Punkt acht Uhr.«
    Er eilte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Die leere Wohnung hatte jetzt nichts Verstörendes mehr – sie war ein Segen. Am alten Holztisch schaufelte er sich den Haferbrei im Stehen direkt aus dem Topf in den Mund. Er goss kaltes Wasser auf starken kalten Tee und gab einen Löffel Honig dazu, der wie ein Stein auf den Boden des Glases fiel. Gott, hatte er Hunger. Und Durst. Er musste allmählich ans Arbeiten denken.
    Als er fast aufgegessen hatte, bemerkte er die Nachricht auf dem Boden. Sie war unter der Tür hindurchgeschoben worden und deshalb mit Staub bedeckt, sein Name jedoch gut zu entziffern, die Handschrift vertraut. Er schob sich den Rest lauwarmen Brei in den Mund, während er zum Lesen ans Fenster trat. Stellte mit zweistimmigem Geschepper Topf und Löffel ab. Trank den letzten Schluck Tee. Zog sich die Stiefel an, die Mütze mit den Ohrenklappen, einen geflickten Mantel – und verließ das Haus.
Die Bank
    Auf der Bank Ecke Zamkowaja- und Klenowaja-Straße saß ein großer, zottiger Bär. Schostakowitsch näherte sich ihm behutsam von hinten.
    »Du bist spät dran«, sagte der Bär. »Sehr spät.«
    »Ich habe verschlafen«, sagte Schostakowitsch. »Dann hat mich Irina Barinowa in der Küche aufgehalten. Ich dachte schon, ich käme nie mehr weg.« Er schluckte missmutig und setzte sich neben Sollertinski, der in seinen unförmigen, einem Landstreicher gemäßen Pelzmantel gehüllt war. Der halbgare Haferbrei war zu salzig gewesen, und an der Innenseite seiner Wange bildete sich eine Geschwulst. »Frischst du gerade Sprache Nummer achtzehn auf?« Er warf einen Blick auf die georgische Grammatik in Sollertinskis Pranke. »Deine Loyalität gegenüber unserem Führer ist für alle anderen beschämend.«
    »Nummer drei«, sagte Sollertinski und zwinkerte. »Ich fühle mich heute ein wenig malcontent , die neuen Nachrichten haben mir einen frisson beschert.«
    Schostakowitsch sah sich das Buch genauer an. Ein hellblauer Umschlag verbarg einen glanzlosen grauen; darin steckte ein französischer Text. »Du bist ein meisterhafter Heuchler.«
    Sollertinski zuckte mit den Schultern und blickte sich um zu den hohen, glitzernden Fenstern, dem Schutzwall aus Bäumen rund um den Park. »Heuchler leben länger als Dissidenten, das wissen wir doch beide.«
    Die Sonne stach wie Nägel, und Schostakowitsch zog sich den Kragen über die Ohren. »Du hast schon immer gewusst, wie man Aufmerksamkeit vermeidet.« Seine Stimme hatte zwei Tonlagen: an der Oberfläche Bewunderung, darunter so etwas wie Neid. »Wenn du mir was zu sagen hast, dann lass uns irgendwo hingehen, wo wir weniger exponiert sind.«
    Im Wirtshaus war es nach dem gleißenden Licht regelrechtdunkel. Schostakowitsch stolperte über einen Stuhl, als er Sollertinski folgte, der auf einen Ecktisch zusteuerte.
    »Du siehst ein wenig mitgenommen aus«, sagte Sollertinski gut gelaunt. »Harte Nacht?«
    »Harte drei Nächte. Kein Schlaf bis zum Morgengrauen.«
    »Wieder in der Tretmühle?« Sollertinski gab dem jungen Mann an der Bar ein Zeichen. »Mein armer, gepeinigter Freund.«
    »Für mich nur Tee«, sagte Schostakowitsch. »Ich habe erst vor einer Stunde gefrühstückt.«
    »Na und?«
    »Also schön. Einer geht vielleicht.«
    Es war behaglich, mit seinem alten Freund dort zu sitzen, zu spüren, wie seine Hände langsam auftauten und die Wärme des Wodkas sich in seinem Magen ausbreitete. Behaglich und scheinbar wie an jedem anderen Tag – und trotzdem stimmte etwas nicht. »Ich habe seit Tagen Schwierigkeiten mit
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