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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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vergiss nicht, dass ich im Moment sehr viel zu tun habe.«
    Seine Mutter zuckte zusammen und beugte sich wieder über ihr Essen. »Nur wie hell ...«, murmelte sie. »Wie ...«
    »Was hast du gesagt, Mutter?«
    Frau Eliasberg hob den Kopf. Kleine Steckrübenstückchen schaukelten in ihrem Haar. »Ich wollte dich nicht kränken, Karl. Mir war heute nur nach ein wenig Brot, das ist alles.«
    »Ja, ja.« Seine Augen wanderten zu dem Schreibtisch an der Wand, doch er zwang sich, wieder seine Mutter anzusehen.
    »Ich habe gesagt: ›Nur wie hell ist es hier, wie verwahrlost‹!« Langsam, gedankenverloren, wandte seine Mutter den Blick zum offenen Fenster.
    Sie verfielen in Schweigen. Unten auf der Straße pfiff jemand fröhlich vor sich hin, jemand, der nicht gerade mit einem betagten Angehörigen breiiges Gemüse zu sich genommen hatte. Elias fummelte an seinem Löffel herum und streute sich aus reiner Gewohnheit Salz auf den leeren Teller.
    »Denk an deine Gesundheit, Karl!« Seine Mutter schnalzte mit der Zunge. »Du willst doch nicht sterben, bevor du vierzig bist, wie dein armer Vater.«
    »Aller Wahrscheinlichkeit nach«, sagte Elias, »werde ich an etwas anderem krepieren als an übermäßigem Verzehr von Salz.« An ständigem Genörgel zum Beispiel. Man würde ihn über seinem Schreibtisch zusammengesackt finden, mit dem Kopf auf einem Kissen aus Partituren, von einer halb gelähmten Matriarchin, deren Zunge als einziger Körperteil noch voll und ganz funktionstüchtig war, in den frühen Tod getrieben.
    »›Müder Körper atmet schon besser ... Die Passanten wohl denken sich harmlos: Wahrscheinlich ist sie Witwe seit gestern.‹« Seine Mutter atmete schwer, während sie Anna Achmatowa zitierte: Zeilen, die sie in den vergangenen dreißig Jahren beinahe täglich gesprochen hatte. »Ein wundervolles Gedicht. Es fängt meine Situation perfekt ein. Wenn du doch nur auch so eine Gabe hättest.«
    »Wörter waren nie meine Stärke.«
    »Wohl wahr«, stimmte seine Mutter zu. »Du hast sehr spät sprechen gelernt. Von allen Herbstbabys, die im Umkreis von drei Kilometern um den Pischew-Bahnhof geboren wurden, warst du das letzte, das ein Wort von sich gegeben hat. Aber das habe ich dir vielleicht schon mal erzählt.«
    »Ein- oder zweimal«, sagte Elias.
    Mit lautem Gequietsche und Gekratze schob Frau Eliasberg die letzten Fasern ihres Gemüses zusammen, saugte dann am Löffel und schmatzte mit den Lippen.
    »Nicht dass du es nicht auf deine Weise auch zu etwas gebracht hättest. Wenn nur dein armer Vater noch hätte miterleben dürfen, dass du der beste Dirigent Leningrads geworden bist!«
    »Bitte, Mutter.« Elias lächelte verkrampft. »Ich bin nicht der beste, und ganz Leningrad weiß das.«
    »Papperlapapp! Bester oder zweitbester, das ist Ansichtssache, und Ansichten gibt es so viele wie Blätter an einem Baum.«
    »Vielleicht.« Elias trug die Teller zum Spülbecken und wischte sie mit einem Lappen sauber, den er dann mit kochendem Wasser aus dem großen, schwarz gewordenen Kessel ausspülte. »Aber jetzt muss ich mich an die Arbeit machen, Mutter.« Es war entscheidend, dergleichen beiläufig zu sagen, es wie nebenbei einzuschieben. Die Forelle, die das Maul am weitesten aufsperrt, hängt als Erste am Haken, dachte er.
    Doch dank jahrelanger Übung, zuerst mit seinem Vater, dann mit ihm, hatte seine Mutter die selektive Taubheit zu einer Kunst verfeinert. »Schrecklich, dieser deutsche Krieg, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Elias. Er blickte auf die leere Straße.
    »Unvorstellbares Leid, heißt es«, fuhr sie, offenkundig zum Plaudern aufgelegt, fort.
    »Ja«, wiederholte er und zog das Schiebefenster hoch, um sich hinauszulehnen und den Wind im Gesicht zuspüren. Hoch über den Dächern sah er den bleichen, mit Wolken gestreiften Himmel.
    »Polen, Juden, wen immer sie in die Finger bekommen. Ich mag gar nicht daran denken, was sie gemacht hätten, wenn dein Vater noch ...«
    »Mutter, du sollst dich nach dem Essen nicht aufregen. Davon bekommst du nur wieder Verstopfung.«
    »Verstopfung, von dem faden Zeug? Also, für ein bisschen Fleisch, und sei es nur ein winziges Stückchen Wurst, würde ich Verstopfung liebend gern in Kauf nehmen.« Frau Eliasbergs berühmtes Zungenschnalzen konnte vieles bedeuten; in diesem Fall war es das Schnalzen einer Frau, der übel mitgespielt wurde.
    »Wie wär’s, wenn ich dir den Stuhl ans Fenster rücken würde?«, schlug Elias vor. »Dann kannst du dir ein wenig die Sonne ins
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