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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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verursachte ihm Übelkeit. Während er seinen Haferbrei anrührte, hielt er sich die Hand fest über die Nase und atmete demonstrativ durch den Mund, obwohl er kein Publikum hatte. Wofür er allerdings dankbar war. Er hatte noch nie gern vor Mittag geredet und hasste es, wenn er von der Treppe aus den Lärm gleich mehrerer Spirituskocher hörte und sich ihm schon am frühen Morgen Stimmen in den Kopf bohrten. (Wie gleichgültig Nina auch wirken mochte, wie sehr sie sich auch gegenüber seinem Leiden zu verschließen schien – wenigstens klang sie nie wie ein Fischweib!)
    Er lehnte am Tisch und wischte sich ein wenig Staub von der Brille, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Kleine katzengleiche Schritte, schnüffelnder Atem. Er warf einen raschen Blick über die Schulter und sah ein rissiges Paar Überschuhe, ein mageres Paar Knöchel.
    Er seufzte. Wann immer er den Herd oben ausgehen ließ und gezwungen war, sich hier herunterzuwagen, musste er sich auf diese Prüfung gefasst machen, es sei denn, er schaffte es, so leise zu sein wie wachsendes Frühlingsgras.
    »Aaahhh, Herr Schostakowitsch!« Wie üblich lag eine heillose Genugtuung in dem Gruß. »Ich habe schon an dem Geschlurfe über meiner Zimmerdecke gehört, dass Sie es sind.«
    »Irina Barinowa!« Er tat, als sei er in seiner eigenen Welt versunken gewesen. Genau das erwartete sie schließlich von ihm: die Zerstreutheit des Künstlers, die ihn als Nachbarn und Menschen untauglich machte. »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.«
    »Guten Morgen?«, wiederholte Irina Barinowa und schaffte es, einen zugleich nachdenklichen und scharfen Ton anzuschlagen. »Ist es noch Morgen?« Ihre Stimme hob sich, ebenso wie ihre schrumpelige Hand, die zur Vorderseite ihrer verschlissenen grünen Jacke wanderte (es war ja wesentlich vornehmer, alte Kleidungsstücke auszubessern, als protzige neue zu kaufen). Sie kramte in den Taschen ihres Hauskleids. »Aaahhh«, sagte sie wieder, und ihr Triumph, dieses Mal unverkennbar, schlug eine Schneise in die dunstige Luft. »Es ist aber schon Nachmittag, Herr Schostakowitsch.«
    Er biss sich vor Ärger auf die Zunge und schmeckte Blut. »Scheiße«, murmelte er. Schweigend sah er hin, als die alte Irina Barinowa ihm mit leicht zitternden Händen die goldene Uhr ihres Vaters zeigte, eine Erinnerung an bessere Tage.
    »Du meine Güte!«, sagte er. »Ist es wirklich schon Nachmittag! Kein Wunder, dass unser Ofen aus war, als ich aufgewacht bin.«
    Irina ließ die schwere Uhr samt Kette wieder in der Tasche ihres geblümten Baumwollkleids verschwinden. Beim Gleiten der Glieder, ihrem langsamen, unaufhaltsamenVerschwinden musste Schostakowitsch an ein Schiff denken, das seine Vertäuungen löst. Und mit einem flauen Gefühl im Magen dachte er wieder: Wo ist Nina?
    »Ich nehme an, Sie haben bis spät in die Nacht gearbeitet«, sagte Irina. »Wie das wohl sein muss, so ein Leben als Genie!« Nun, da sie ihn als schamlosen Bohemien bloßgestellt hatte, als nichtsnutzigen Vater und Ehemann, der den Familienherd kalt werden ließ, begann sie ihm zu schmeicheln. Es war alles Teil des Immergleichen.
    Weiter im Programm , dachte Schostakowitsch. Er sehnte sich danach, zu gehen, doch sein Magen war leer, und der Haferbrei kochte noch nicht.
    Irina sah ihn unter ihren weißen Wimpern hervor beinahe schüchtern an. »Wenn ich denke, dass Dmitri Schostakowitsch in meinem Haus wohnt. Leningrads berühmtester Sohn, hier, unter dem Dach meines seligen Vaters.«
    Schostakowitsch zog den Kopf ein. Diese Art Reden bereiteten ihm körperliche Qualen.
    »All dieses.« Sie zeigte mit einem zweigartigen Arm im Raum herum. »Das hat früher alles meinem Vater gehört – vom Dachboden bis zum Keller.«
    »Ja, ich weiß. Das erzählen Sie mir an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr, und es hat inzwischen sooo einen langen Bart.« Um es ihr zu demonstrieren, hielt er die flache Hand an seinen Bauchnabel; dann stach er den Holzlöffel in seinen Brei.
    »Früher hatten wir Dienstmädchen und Köche.« Irina seufzte schwer. »Jetzt ist es ein Haus voller Fremder.«
    Schostakowitsch starrte auf den Brei, als könnte er ihn zwingen, endlich Blasen zu werfen.
    »Apropos Dienstmädchen«, sagte Irina, im Handumdrehen wieder in der Gegenwart zurück. »Wo ist eigentlich Ihre Fenja? Ich habe sie seit Tagen nicht gesehen.«
    »Fenja besucht ihre Eltern.« Er riss den Topf vom Herd. Plötzlich erschien ihm halbgarer Haferbrei ungemein reizvoll. »Deshalb koche ich
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