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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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sein«, sagte er leise, »aber es kommt doch nicht ganz unerwartet.Entsprechende Gerüchte gibt es seit Monaten. Aus London, aus Washington – aber auch aus dem Inland.«
    »Aber er hat beschlossen, sie nicht zu hören. Und jeder, der ihn zwingt, seine Ohren aufzusperren, wird teuer dafür bezahlen.« Aus der verschwommenen Wand tauchte ein bekanntes Gesicht auf, wirklich und unwirklich zugleich, wie der Geist, der Hamlet erscheint. Mandelförmige graue Augen, weiße Zähne, ein starker Kiefer über einem mit Marschallsternen geschmückten Kragen. »Tuchatschewski!«, flüsterte Schostakowitsch – doch das Bild löste sich bereits in rotem Nebel auf, Blut lief an der Wand hinunter in die Abflussrinnen. Der fähigste Marschall der Roten Armee, einer von Schostakowitschs besten Freunden, erschossen von Stalins Schergen.
    »Natürlich will Stalin nichts davon hören«, stimmte Sollertinski ihm zu. »Oder sehen. Die Möglichkeit, dass er von Hitler verschaukelt worden ist, passt nicht sonderlich gut in sein Weltbild.«
    »Also verschließt er seine verfluchten Augen.« Schostakowitsch machte selbst die Augen zu. Das Wasser, der Alkohol so früh am Tag, die Erscheinung: Ihm war ein wenig mulmig zumute. »Die deutschen Ratten verlassen das sinkende Schiff, und wir – tja, was sollen wir tun?«
    Sollertinski schüttelte den Kopf. »Im Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten. Ich bin heute Morgen nur bei dir vorbeigekommen, um dir zu erzählen, was ich herausgefunden habe – nicht damit du auf der Stelle handelst.« Er seufzte. »Aber du bist ja nicht mal aufgewacht. Wenn Dmitri Schostakowitsch erst mal schläft, könnte er ebenso gut tot sein. Ich habe geklopft, bis fast die Tür zerbrochen ist. Ich fürchtete schon, deine Frau würde jeden Moment rauskommen und mich mit dem Besen davonjagen.«
    »Nina!« Schostakowitsch erschrak. »Als ich aufgewacht bin, war Nina fort.« Allmählich kam die Erinnerung zurück. »Sie hat gestern Abend gedroht, sie würdedie Kinder nehmen und für ein paar Tage zu ihren Eltern fahren. Sie war sehr wütend.«
    »Kein Wunder!« Sollertinski drehte den Wasserhahn zu. »Wie fändest du es denn, mit dir verheiratet zu sein – tagaus, tagein?« Er ging, Schostakowitsch voraus, wieder in den mittlerweile halbvollen Schankraum. »Nichts für ungut, mein Freund, aber selbst ich mit meinen Nerven aus Stahl wäre der Aufgabe, dein Ehepartner zu sein, nicht gewachsen.«
    Schostakowitsch bestellte per Handzeichen noch mehr Wodka. »Nina ist selbst nicht einfach«, entgegnete er rebellisch. »Sie scheint unfähig, zu verstehen, dass ich manchmal allein sein muss, um zu arbeiten.«
    »Manchmal?«, wiederholte Sollertinski. »Sei mal ehrlich. Hast du diese Woche Vierundzwanzig- oder Achtundvierzig-Stunden-Schichten eingelegt?«
    »Letzteres.« Schostakowitsch errötete. »Aber ich kann jetzt nicht aufhören, unmöglich. Erst muss der Entwurf fertig sein.« Er starrte in sein leeres Glas und sah dort den gesamten vergangenen Abend: die Schreierei, das Türenknallen, die weinende kleine Galina, die noch verschwommene, aber hartnäckige Melodie in seinem Kopf.
    »Die Sache mit den englischen Dichtern? Mein Gott, Dmitri! Die meisten Männer würden sich alle zehn Finger danach lecken, mit der schönen Nina verheiratet zu sein, und du sperrst sie für Romanzen musikalischer Art – für Raleigh, Burns und Shakespeare – aus dem Zimmer?« Trotzdem klopfte Sollertinski ihm aufmunternd auf die Schulter. »Nina bleibt nie lange fort. In ein paar Tagen ist sie wieder zurück. Du weißt doch, dass sie sich unwiderstehlich von dir angezogen fühlt.«
    »Wie die Motten vom Licht«, sagte Schostakowitsch trübsinnig. »Bloß dass sie genauso hitzig ist wie ich. Aber ich muss weiterarbeiten. Du weißt doch, wie es ist, wenn man in Fahrt kommt. Dann aufzuhören ist gefährlich, wenn nicht fatal.«
    Sollertinski hob zuerst die Augenbrauen und dann sein randvolles Glas. »Auf die Musik und die eheliche Eintracht. Mögen sie eines Tages zusammengehen.«
    »Auf das langsame Denken und das schnelle Schreiben«, konterte Schostakowitsch und stürzte seinen Wodka hinunter. »Zu Hause wartet ja nun niemand auf mich. Wenn ich schon die nächsten Tage als Junggeselle leben soll, kann ich ruhig noch einen trinken.«
    Drei Wodkas später hallte das Wirtshaus von lauten Stimmen und Gelächter wider. Sogar Druskin, der selten froh war, zeigte den zufriedenen Gesichtsausdruck eines Kritikers, der bis zur Perfektion
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