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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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Zuchtmeister genug, weißt du.«
    Sonja hörte Papa in letzter Zeit oft seufzen. Außerdem war ihr aufgefallen, dass sein Bart unten ausfranste, weil er beim Schreiben andauernd daran zupfte. Und noch etwas – ihre Wohnung war nicht wie die von anderen Leuten. Überall lag stapelweise Papier herum, und Staubknäuel sausten unter dem Sofa hin und her wie Mäuse. Wenn Papa ein bisschen ordentlicher wäre, dachte sie insgeheim, hätte er bestimmt auch weniger graue Strähnen in seinem braunen Bart und weniger Falten auf der Stirn.
    Sie atmete tief ein und aus, bis sie bei sechzig war; jetzt – jetzt! – setzte sie sich im Bett auf und schaute. Und da stand es, ans Fenster gelehnt: erst einen Tag ihrs, aber zwei Jahrhunderte alt und genauso vollendet. Die Anmut des Halses im Mondlicht, die Schnecke, die sich zu ihr hin neigte wie ein Schwanenkopf.
    Tante Tanja war anscheinend nicht damit einverstanden gewesen, dass sie es bekam. »Hast du dir das auch gut überlegt, Nikolai?« Sie hatte Papa in eine Ecke gezogen, und da standen sie, zu dicht beieinander, zwischen Klavier und Fransenstehlampe eingezwängt. »Sie wird es fallen lassen«, zischte Tante Tanja. »Sie wird es kaputt machen. Sie ist zu klein dafür.«
    »Sie wird es in Ehren halten«, widersprach Papa. »Sie wird es beherrschen lernen. Sie wächst noch hinein.«
    Es stimmte, Sonja war tatsächlich ein bisschen zu klein für das Cello, doch wenn sie ein Kissen auf ihren Stuhl legte und den Hals reckte (wobei sie sich vorstellte, sie wäre eins der hohen Gebäude am Newski-Prospekt) und wenn sie die Arme so lang wie möglich machte (und dabei an Orang-Utans im Zoo dachte) – dann wurde sie größer, als es ihrem Alter entsprach, und das Geburtstagsgeschenk passte perfekt.
    »So etwas Törichtes«, sagte Tante Tanja, die Wangen noch stärker gerötet als sonst. »Ein echtes Storioni! Wie kann man einem Kind ein so kostbares Instrument anvertrauen!«
    »Sonja ist alles andere als bloß ein Kind .« Papa hatte sich ziemlich verärgert angehört. »Im Übrigen werde ich den Verdacht nicht los, dass du aus den völlig falschen Gründen Einwände erhebst.«
    »Und die wären?« Tante Tanjas Hals war leicht marmoriert.
    Sonja hörte auf, die Wurst klein zu schneiden und Brotwürfel damit zu belegen; sie stellte sich in die Tür, damit sie besser sehen konnte.
    »Du fürchtest, ich könnte sie vergessen ...« – Papa räusperte sich – »... ich könnte sie ersetzen wollen.« Er hielt inne und schlug mit der flachen Hand auf das Klavier, sodass das Metronom klingelte und prestissimo zu ticken begann. »Als ob!«, sagte er und brachte das Metronom und Tante Tanja mit einer einzigen zornigen Handbewegung zum Schweigen. »Als ob ich sie je vergessen könnte!«
    »Guck mal!«, Sonja stupste Konstantin an, der schon da war, um ihr bei den Vorbereitungen zu helfen. »Guck dir Tante Tanjas Hals an!« Sie blickte fasziniert auf die Flecken über dem Kragen ihrer Tante, die ineinanderflossen wie die Blutpfützen unter den auf dem Markt hängenden Schweinen. »Nun guck dir das doch mal an!«
    Aber Konstantin war zu sehr damit beschäftigt, Süßigkeiten auszupacken und sich immer gleich mehrere davon in den Mund zu stopfen.
    »Apropos Schweine«, sagte sie, dabei hatte niemand von Schweinen gesprochen, nur sie selbst war im Geist mal eben über das mit Borsten übersäte Kopfsteinpflaster gelaufen, um sich die in Reihen aufgehängten gedunsenen Leiber anzuschauen. »Du bist nicht besser als ein Schwein!«, sagte sie streng und sah Konstantin an, der wie eine stämmige, Blätter verlierende Eiche inmitten bunter fantiki -Bonbonpapiere stand. »Was ist mit den Schostakowitschs? Du musst ihnen auch noch was übrig lassen.« Sie schnappte Konstantin die Messingschüssel weg und ging damit ins Wohnzimmer, wo sie sie auf das Sofa stellte und ein Kissen darüber deckte.
    »Warum kommen denn die Schostakowitsch-Kinder?«, rief Konstantin ihr hinterher. »Das sind doch Babys.« Das Gesicht des Zehnjährigen glänzte vor Zucker und strotzte vor Spott.
    »Sie sind süß«, sagte Sonja. »Sie können ja nichts dafür, dass sie noch so klein sind. Und Nina Schostakowitsch ist die schönste Frau in ganz Russland.« Sie blickte zum Fenster, das wegen der Nachmittagshitze offen stand. Das durchs Glas fallende Licht zeichnete ein vollkommenes weißes Quadrat mit einem Schattenkreuz darin auf den Teppich. »Die schönste lebende Frau«, verbesserte sie sich.
    Konstantin kam einen Schritt
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