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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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näher. Seine Miesepetrigkeit und das plötzliche Verschwinden der Süßigkeiten waren vergessen, doch der Zuckerrausch hielt an. »Du bist schön«, sagte er. »Ich könnte dir ein verdammt guter Ehemann sein, wenn ich groß bin.« Sein Mund stand offen, und sie sah grellbunte Spuckefäden zwischen seinen Lippen.
    Sonja wich zurück, bis sie vom Klavier gebremst wurde. Rums! Sie landete mit dem Hintern auf der Tastatur und erzeugte ein Kuddelmuddel aus Tönen. Der Missklang ließ sie zusammenzucken. »Konstantin Kuschnarow! Du sollst nicht fluchen! Außerdem bin ich erst neun. Neun Jahre und drei Minuten, genauer gesagt.«
    In dem Moment klingelte es an der Tür. Papa und Tante Tanja beendeten ihr hitziges Geflüster, und der Geburtstag – der schon ein Reinfall zu werden drohte – war gerettet. Schon kamen die Gessen-Kinder herein (Papa nannte sie Gessen eins, Gessen zwei und so weiter), der Sohn von Hausmeister Boris und die vier Schostakowitschs, alle auf einmal. Einer nach dem anderen gratulierte ihr, sodass Sonja sich selbst kaum »Danke« und »Herzlich willkommen« sagen hörte.
    Maxim Schostakowitsch, winzig klein in seinem schwarzen Pelzmantel, hielt sich an der Hand seiner Mutter fest. Wie ein Papagei drehte er seinen kleinen, runden Kopf immer hin und her, als er sich im Raum umschaute. »Siehst du«, zischte Sonja Konstantin zu. »Ich hab dir doch gesagt, er ist süß.«
    Konstantin machte ein eifersüchtiges Gesicht. »Warum hast du einen Pelzmantel an?«, fragte er Maxim. »Dir kann doch nicht kalt sein, in drei Wochen ist Mittsommernacht.«
    »Er zieht ihn zu Partys immer an«, sagte Galina. »Und das ist auch völlig in Ordnung.« Sie hatte einen schnurgeraden Mittelscheitel und zwei lange, glänzende, geflochtene Zöpfe. Genau wie Maxim konnte sie ihrem Gegenüber unverwandt in die Augen schauen, und das machte sie jetzt mit Konstantin.
    »Ihr seht beide sehr hübsch aus«, sagte Sonja schnell. »Ich hole euch ein bisschen Wurst.«
    Als sie aus der Küche zurückkam, sah sie erfreut, dass Galina sich unter die anderen gemischt hatte, aber Maxim hielt weiterhin die Hand seiner Mutter umklammert, und sein Mantel war noch bis oben hin zugeknöpft.
    »Etwas zu essen?« Sonja musste den Teller zuerst nach oben und dann nach unten halten, weil Mutter und Sohn so unterschiedlich groß waren.
    Frau Schostakowitsch nahm mit der freien Hand ein Stück Wurstbrot und biss sofort hinein: Ihre Zähne warenlang und viereckig wie die eines Pferds. »Hmmm. Köstlich.«
    »Kösslich«, plapperte Maxim ihr nach.
    »Die hab ich selbst gemacht«, sagte Sonja. »Wenigstens habe ich sie klein geschnitten. Der Schlachter hat die Wurst extra für uns hergestellt, als er gehört hat, dass wir heute eine Geburtstagsparty feiern.«
    »Du hast heute noch ein ganz besonderes Geschenk bekommen, nicht wahr?« Frau Schostakowitschs dunkles Haar türmte sich über ihrer weißen Stirn hoch auf. »Einen wahren Schatz.«
    Sonja nickte. »Es hat früher meiner Mutter gehört. Sie ist gestorben, als ich noch ganz klein war, kleiner als Maxim.«
    »Ich weiß«, sagte Frau Schostakowitsch. Ihre Augen waren von dem gleichen klaren Braun wie ihre Bernsteinkette, und in ihren Ohrläppchen steckten kleine Perlen. Sie nahm Sonja beiseite. »Kannst du mir helfen?«, flüsterte sie. »Maxim ist ein bisschen schüchtern, deshalb muss er seinen Pelzmantel auch drinnen tragen.«
    »Damit er sich mutiger fühlt.« Sonja verstand das gut; sie trug oft ihr Emaille-Medaillon mit dem gepressten Veilchen darin, wenn sie Schutz brauchte. »Ich kümmere mich um ihn.«
    »Danke.« Frau Schostakowitsch lächelte und nahm ein Glas Preiselbeersaft von Tante Tanja entgegen, die immer noch eine Spur rot im Gesicht war. »Auf Sonja!«, sagte sie und hob ihr Glas.
    »Auf Sonja!«, sagten die fünf Gessen-Kinder, Boris aus dem Keller, Galina mit den glänzenden Zöpfen und Konstantin, der niemals, nicht in einer Million Jahren, Sonjas Ehemann werden würde. Die rote Rose auf dem Fenstersims nickte im Wind, als wollte sie sagen: Alles Gute zum Geburtstag .
    »Auf Sonja!«, riefen ihr Vater und ihre Tante, und Herr Schostakowitsch kam zu ihr, um ihr die Hand zu schütteln. »Auf deine Gesundheit und dein Glück«, sagte erund verbeugte sich wie vor einer richtigen Dame. Die Sonne funkelte in seinen großen Brillengläsern, sodass Sonja seine Augen nicht sehen konnte, aber seine Stimme klang aufrichtig. »Ich wusste ja gar nicht, dass Nikolai Nikolajew so eine
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