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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent
Autoren: S Quigley
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gezupft.«
    »Und?« Herr Schostakowitsch schien regelrecht gespannt. »Wie klang es?«
    »Wie –« Sonja schloss eine Sekunde lang die Augen. »Wie eine Stimme.« Als sie die Augen wieder öffnete, strahlten Herrn Schostakowitschs Brillengläser ihr mitten ins Gesicht. »Es schien etwas zu sagen, ich weiß nur nicht, was.«
    Herr Schostakowitsch nickte. »Meiner Meinung nach ist die A-Saite von allen vier Saiten die verschwiegenste. Wenn man sie falsch behandelt, behält sie ihre Geheimnisse womöglich auf ewig für sich.«
    »Dann glauben Sie also, dass es mich mag?« Sonja wagte es nicht zu hoffen.
    »Eindeutig.« Herr Schostakowitsch gab ihr das Cellozurück. »Kein Zweifel. Würdest du denn etwas für deine Gäste spielen, wenn ich dich begleite?«
    »Wir könnten eine Bearbeitung von Faurés Elégie spielen«, schlug Sonja vor. Die hatte sie mit ihrem geborgten Einhalb-Cello das ganze vergangene Jahr geübt und letzte Woche endlich auswendig gelernt.
    »Eine perfekte Wahl für einen Geburtstag.« Herr Schostakowitsch machte ein feierliches Gesicht. »Das Fortschreiten der Zeit ist eine ernste Angelegenheit.«
    Sobald er auf dem Klavier ein A angeschlagen hatte, damit Sonja ihr Instrument stimmen konnte, wurden alle still, selbst die unruhigen Gessen-Kinder. »Ein aufmerksames Publikum«, sagte Herr Schostakowitsch. »So haben wir es gern!«
    Sonja war ein bisschen aufgeregt, aber das Licht war inzwischen noch weicher geworden, Kerzen brannten, und ihr Vater sah so glücklich aus wie schon lange nicht mehr. Wie lieb sie ihn hatte! »Faurés Elégie, in einer Bearbeitung«, kündigte sie mit leicht gepresster Stimme an. »Für meinen Vater.«
    »Ich bin bereit, sobald du bereit bist«, sagte Herr Schostakowitsch.
    Sonja richtete sich gerade auf und stemmte die Füße in den Boden. Das Cello lehnte sich an sie. Ich bin auch bereit , sagte es mit hölzernem Flüstern. Sonja brachte die linke Hand in Stellung und legte vorsichtig den Bogen auf die Saiten – kein Quietschen, kein Kratzen.
    Bislang hatte sie die Elégie als ein silbriges, klares, fast eisiges Stück betrachtet. Doch heute, in den stillen Momenten, bevor sie begann, empfand sie es anders. Faurés vertraute Noten verwandelten sich: wie reife, goldene Früchte, rund und undurchsichtig, hingen sie in der Luft. Seltsam! Schon jetzt hatte das Cello ihre Sichtweise verändert. Sie holte tief Luft, nickte Herrn Schostakowitsch zu, und der erste Ton fiel, vollendet gestimmt und so süß wie Honig, in die Stille.
    Bald schien es Sonja, als singe das Cello von ganz allein. Sie brauchte nur ihre Finger auf die Saiten zu legen, schon strömte die Musik nur so heraus, Phrase für Phrase, als hätte sie mit einem Zauberschlüssel eine geheime Welt aufgeschlossen. Dann ein Seufzen – kam es von ihr oder dem Cello? –, und mit einem letzten heiseren Strich glitt der Bogen über die Saite. Stille. Sie ließ die Arme fallen, die von der Anstrengung, das etwas zu große Cello umfasst zu halten, schmerzten. Kurz strich sie ihm über den glatten Rücken. Danke , sagte sie. Du warst wunderbar.
    Herr Schostakowitsch sprang vom Hocker auf und klatschte stürmisch in die Hände. Auch alle anderen applaudierten, und Sonjas Vater drückte sie so fest an sich, dass sie einen Knopf an seinem Hemd knacken hörte. »Du warst wunderbar!«, sagte er, genauso wie sie es eben zu dem Storioni gesagt hatte. »Du warst fabelhaft.«
    Das Licht schwand, und die Gäste begannen ihre Mäntel zu holen. Sonja stellte sich an die Tür. »Auf Wiedersehen«, sagte sie und schüttelte jedem die Hand. »Danke, dass ihr gekommen seid.« Und zu Galina: »Du hast es gut. Ich hätte auch gern so einen Bruder wie du.«
    »Ja, er ist ganz in Ordnung.« Galina nahm Maxim lässig an die Hand. »Wir können ja irgendwann mal wiederkommen.«
    »O ja, bitte«, sagte Sonja und wandte sich dann an Herrn Schostakowitsch. »Vielen, vielen Dank, dass Sie mich begleitet haben.«
    »Ich sollte dir danken. Das war ein guter Vortrag.« Er verbeugte sich so tief, dass ihm die Haarlocke wieder in die Stirn fiel. »Sie haben eine sehr begabte Tochter«, sagte er zu Sonjas Vater. »Erlauben Sie ihr um Gottes willen nicht, Lehrerin zu werden. Lassen Sie sie musizieren, was auch immer geschieht!«
    »Hm!« Papa tat beleidigt. »Nur weil Sie sich für einen schlechten Lehrer halten, ist noch lange nicht der ganze Beruf unnütz. Manche sehen darin eine sehr ehrenwerteArt des Broterwerbs.« Er legte Sonja eine Hand auf die
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