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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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tausend Seiten dicken Gebrauchsanweisung war ich erst bis Seite 56 gekommen und konnte gerade einmal die Musikanlage halbwegs bedienen. Mama und ich drückten wahllos auf alle Knöpfe gleichzeitig, und irgendwann gab der Sessel auf.
    »Ach, wäre dein Vater noch am Leben, er wäre stolz auf dich gewesen«, sagte meine Mutter, mir auf die Füße schauend.
    Mein Papa hatte sein Leben lang davon geträumt, Auto zu fahren. Er hatte sich sogar im postsozialistischen Russland den Führerschein gekauft, der aber in Deutschland nicht anerkannt wurde, und in Russland traute sich mein Vater nicht, mit dem gekauften Schein zu fahren, weil die meisten anderen Verkehrsteilnehmer ihre Führerscheine ebenfalls auf dem Schwarzmarkt erworben hatten. Das konnte böse enden. In Deutschland versuchte mein Vater sein Glück in verschiedenen Fahrschulen. Sein letzter Fahrlehrer beschwerte sich sogar schriftlich beim Fahrschuldirektor. »Während der Fahrt betrachtet Herr Kaminer ständig seine Füße, statt auf die Straße zu schauen«, schrieb er. In Wirklichkeit schaute mein Vater natürlich nicht »ständig« aber tatsächlich gelegentlich auf die Pedale, um nicht danebenzutreten. Gemeinsam mit dem Fahrschuldirektor redete der Fahrlehrer meinem Vater schließlich die Führerscheinidee aus.
    Ich hatte als Kind die Fahrerei gehasst. Wenn wir zu lange bei Freunden gewesen waren und anschließend ein Taxi nach Hause nehmen mussten, wurde mir im Auto immer schlecht. In der Armee hat man uns Soldaten wie Vieh auf LKW s zum Waschen gefahren. Dreißig Mann auf einer vier Meter großen Ladefläche, das war keine nette Reise. Wer hätte gedacht, dass mir als Erwachsenem die Fahrerei so viel Spaß machen würde? In einem guten großen Wagen mit 6-Gang-Schaltung. Eigentlich wollte ich mir zuerst ein Auto mit Automatik kaufen, dazu mit Allradantrieb. Beim Superb geht das aber nicht zusammen, entweder oder. Also habe ich mich für Allradantrieb und Gangschaltung entschieden und versuchte, es nicht zu bereuen. »Ich möchte doch selbst meinen Wagen fahren! Wir müssen eigene Entscheidungen treffen können, es darf nicht alles Robotern überlassen werden! Ein Mann muss selbst walten und vor allem schalten können. Automatik ist etwas für Hausfrauen und Kleinkinder«, so redete ich mir ein, wenn ich im Berliner Stauverkehr alle zwei Sekunden die Gangschaltung betätigte.
    Kaum einen Monat gefahren, hatte ich schon den ersten Kratzer an der Tür. Meine Tante hatte mich nachts angerufen und mich mit der seltsamen Frage geweckt, ob ich wisse, wo sie gerade sei. Diese Frage gefiel mir überhaupt nicht, und ich fuhr stracks zu ihr nach Kreuzberg. Sie machte einen verwirrten Eindruck, wusste nicht, dass sie in ihrer eigenen Wohnung war, und fragte mich ständig, wie ich denn erfahren hätte, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung sei. Außerdem hatte sie ein Kribbeln im linken Arm. Ich tippte auf einen Schlaganfall und fuhr sie ins Krankenhaus. In der Notaufnahme stellte sich zum Glück heraus, dass die Tante keinen Schlaganfall hatte, sondern nur eine TGA , eine transiente globale Amnesie. Dabei nimmt sich das Kurzzeitgedächtnis eine Rauchpause, die bis zu acht Stunden dauern kann.
    »Eine Krankheit, die Patienten wie Ärzte gleichermaßen verblüfft«, wie mir der junge Arzt in der Notaufnahme erklärte.
    Ich war ebenfalls von diesem nächtlichen Abenteuer verblüfft. Deswegen hatte ich etwas unglücklich auf dem Hof des Krankenhauses geparkt.
    »Sie dürfen hier nicht stehen, das ist die Einfahrt für die Notaufnahme!«, schrie mich der Pförtner an, deutlich überaufgeregt.
    Der Hof war voll mit Rettungswagen, es war dunkel und nass, es regnete heftig. Ich musste rückwärts durch das Tor, während von draußen jemand hereinfahren wollte. In der Hektik blieb ich im Tor stecken und schätzte mit meinem dicken Wagen die Kurve nicht richtig ein. Daher der Kratzer an der rechten Tür. Er war bestimmt nicht der letzte, dafür aber, Gott sei Dank, waren alle gesund und die Tante wieder guter Dinge.
    Ich habe zwanzig Jahre in dieser Stadt gelebt, ohne mich in ihr richtig auszukennen, erst als Autofahrer habe ich Berlin kennengelernt. Die Stadt ist viel kleiner, als sie auf der Karte aussieht. Alles ist um die Ecke, man kann die ganze Stadt in einer halben Stunde durchqueren, besonders wenn man nachts fährt. Etliche Straßen, die meiner Vorstellung nach weit auseinanderlagen, sind in Wirklichkeit in drei Minuten zu erreichen, es sei denn, man bleibt im Stau
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