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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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glich jeder Tag einer Ewigkeit, heute fliegen einem die Tage um die Ohren wie Pistolenkugeln. In unserem Garten gratulierte mir zum Glück keiner. Bunte Schmetterlinge jagten hintereinander her, und riesige rot-gold-schwarze Käfer durchbohrten mit tiefem Summen die Luft und knallten gelegentlich mit lautem Bums gegen die Bäume.
    Die sogenannten Brandenburger Doofkäfer, auch Torpedokäfer genannt, sind wahrscheinlich an jenem Tag entstanden, als die Natur besonders gute Laune hatte und zum Scherzen aufgelegt war. Grundsätzlich ist der Natur anzumerken, dass bei der Entstehung der Welt der Spaßfaktor eine entscheidende Rolle spielte. Die Natur hat sich nicht all die Mühe gemacht, um am Ende etwas Ödes oder Langweiliges zu schaffen, ihr ging es vor allem um Action, Spannung, Humor. Alles Langweilige kam aus menschlicher Produktion später dazu. Deswegen können Menschen, die immer auf Nutzen, Leistung und Qualität ausgerichtet sind, so etwas Unsinniges wie Doofkäfer nicht leiden. Ich mochte sie dagegen schon, bloß der Geburtstag verdarb mir die Laune. Statt das sommerliche Spiel der Doofkäfer zu beobachten, ging ich auf den Glücklitzer Friedhof.
    Die Hitze hatte nachgelassen, und sofort erschienen irgendwelche Hinterbliebenen mit Blumen und Schaufeln. Der Friedhof in Glücklitz ist der einzige Ort, an dem man verlässlich auf lebende Menschen stoßen kann. Während die Kirche immer geschlossen ist und die freiwillige Feuerwehr nur selten – zu den großen Feiertagen – ihre Tore öffnet, steht der Friedhof jedem Besucher zu jeder Zeit offen, und fast immer kümmert sich dort jemand um irgendjemanden. Die Menschen in Glücklitz sind mit ihren Toten viel solidarischer als mit den Lebenden und kümmern sich gern um die dahingegangene Verwandtschaft, obwohl oder vielleicht gerade weil hier deutlich mehr Grabsteine als Haustüren vorhanden sind.
    Ich ging die einzige Allee entlang, las die Namen der Verstorbenen auf den Grabsteinen, ihre Geburts- und Todesdaten und stellte fest, dass die Lebensläufe in Glücklitz in einem unnatürlichen, der Natur widersprechenden Kreislauf gefangen sind. Während die Flora und Fauna unseres Planeten normalerweise im Herbst verwelkt oder entschläft, um im Frühling mit neuer Kraft zum Leben zu erwachen, starben die alten Glücklitzer hauptsächlich im Frühling, und die neuen kamen im Herbst auf die Welt. Die Ursache dieses Phänomens schien mir nach einiger Überlegung klar. Natürlich, dachte ich, im Winter haben sie in ihren Gärten nichts zu tun. Um sich die Langeweile an den langen Abenden zu vertreiben, machen sie ihren Frauen Kaffee und haben Sex, woraufhin im Herbst die Kinder zur Welt kommen. Im Frühling sind sie vom vielen Sex müde und erschöpft und so leichter für Krankheiten aller Art empfänglich. Es wäre allerdings einfacher und solidarischer, wenn die Menschen wie der übrige Teil der Natur ihr Kommen und Gehen den Jahreszeiten folgend regeln würden.
    Aber Menschen sind eben keine Doofkäfer. Es ist uns nicht gegeben, den Zeitpunkt des eigenen Todes und der eigenen Geburt zu bestimmen. Dazwischen tun wir gern so, als könnten wir die Zeit lenken und biegen, uns exakt um 19.00 Uhr zum Essen verabreden, den Urlaub langfristig buchen und die Uhren auf Sommer- oder Winterzeit umstellen. Aber Geburt und Tod entgehen völlig unserer Kontrolle. Um mit dieser Willkürlichkeit des Daseins klarzukommen, haben die Menschen Verdrängungsmechanismen entwickelt, die es ihnen erlauben auszublenden, dass sie nicht wissen, was kommt. Bei der Geburt hat man sowieso keine Vorstellung davon, wo, in welchem Land, in welcher Familie und in welchem Zeitalter man auf die Welt kommt. Es vergehen Jahre, bis man merkt, dass dieses ständige Oktoberfest unter dem Fenster eigentlich nicht sein muss. Das ist aber deine Heimat, Söhnchen, wird man aufgeklärt, Oktoberfest ist das Größte, man hat es zu ehren und zu lieben und Punkt. Sollte man an seiner Geburt doch verzweifeln, ist es in der Regel schon zu spät, etwas daran zu ändern.
    Der Tod aber ist noch hinterhältiger als die Geburt. Unser Nachbar in Moskau, ein Oberst im Ruhestand, der die Abteilung für technische Sicherheit im Kurtschatow-Institut für Atomforschung leitete, war sehr aufgebracht, als die Ärzte ihm ein Krebsleiden attestierten. Er wolle doch wie ein Mann sterben, wie ein richtiger Offizier, und nicht wie der krebskranke Chef der Abteilung für technische Sicherheit eines wissenschaftlichen Institutes, meinte
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