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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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selbst auf dem Straßenschild stehen, die Kirche befindet sich logischerweise an der Kirchstraße. Außerdem verfügt das Dorf über zwei ausgeschilderte Sackgassen »Zum See« und »Zum Wald«. Die Verstorbenen tragen, wie man ihren Grabsteinen entnehmen kann, oft die gleichen Nachnamen und waren möglicherweise verwandt, als sie noch lebten. Die Männer heißen hier bevorzugt Hartmut, Helmut oder Rudolf und hatten alle ein ziemlich langes Leben, wenn sie nicht gleich 1939 umgekommen sind.
    Auf dem Gebäude der freiwilligen Feuerwehr steht in großen Buchstaben schwarz auf grau: »Einer für alle, alle für einen«, darunter hängt ein Emblem, auf dem ein Ritter im mittelalterlichen Kostüm versucht, mit einer Gießkanne eine brennende Kirche zu löschen, während ein Adler um ihn herumfliegt. »Seit 1919 im Einsatz«, steht dem Ritter zwischen die Beine geschrieben.
    Die Kirche auf der Kirchstraße ist klein, unauffällig und immer geschlossen. Sie kann mit den anspruchsvollen schicken Giganten großstädtischen Kirchenbaus nicht konkurrieren. Seit meiner Kindheit habe ich Kirchen als eine Art Mausefalle für Gott empfunden. Nicht umsonst haben die Menschen sich überall auf der Welt beim Bau ihrer Gotteshäuser besonders viel Mühe gegeben. Um Gott anzulocken, überzogen die russischen Orthodoxen ihre Kirchenkuppeln mit Gold. Die Logik hinter dieser naiven Geste ist gut nachvollziehbar. Sie selbst liebten Gold und wussten, dass Gott sie nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Demnach musste Gott Gold ebenfalls lieben. Sie hätten die Kirchen auch mit Speck bearbeitet, wären sie sicher gewesen, dass Gott Speck mochte.
    Katholiken versuchen dagegen, Gott mit großer Kunst, mit tollen Bildern anzulocken, Protestanten wiederum setzen auf Freiraum, in ihren Kirchen fühlt Gott sich nicht eingeengt. Aber davon träumen sie alle, dass er irgendwann einmal kommt, von Gold oder Speck angelockt und, zack, schnappt die Falle zu. Dann können sie Gott ganz für sich allein haben und ihn für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Doch Gott ist nicht dumm, er wählt die Freiheit und bleibt den Kirchen fern.
    Die Kirche am Glücklitzer See hat nicht einmal den Anspruch, Gott einfangen zu wollen. Sie ist auch nicht an Gläubigen interessiert, deswegen ist sie immer zu. Sie ist für fünf Gemeinden zuständig, und auf dem Anzeigenbrett neben dem Eingang hängen die aktuellen christlichen Termine aus der Region: wer getraut oder getauft wird, wann und wo. Neben dem Anzeigenbrett, direkt an der Kirchenwand, steht eine altmodische Telefonzelle mit kaputter Wählscheibe. Sie wirkt in der milden Landschaft des Ortes etwas deplatziert. Wozu braucht man hier eine Telefonzelle? Dazu noch direkt an die Kirche gelehnt. Vielleicht ermöglicht die Zelle einen direkten Kontakt zum Himmel? Die Wege Gottes sind unergründlich. Für alle Fälle nehme ich jedes Mal, wenn ich an der Kirche vorbeigehe, den Hörer ab und bleibe eine Weile stehen. Man hört gar nichts. Keinen Piepton, keine Warteschleifenmusik, nur das tiefe Rauschen des Weltalls im Hintergrund.
    In Glücklitz hört man am Abend nicht einmal das Summen der Fernsehgeräte durch die beleuchteten Fenster. Solch leise Häuser wie hier habe ich noch nirgends erlebt. In unserem alten Haus in Moskau wurde es gegen Abend immer sehr laut. Auf allen Etagen wurde geschossen, geschrien, gesungen und gestritten. Die Wände im Treppenhaus waren dünn, an den Fenstern hingen zwar dicke Gardinen, doch anhand der Geräusche, die aus jeder Wohnung sickerten, konnte man sich leicht vorstellen, was die Bürger gerade trieben. Entweder schauten sie sich im Fernsehen Kriegsfilme an oder sie liebten sich laut, erzogen ihre Kinder oder feierten im Familienkreis. In Berlin haben wir ein vergleichsweise leises Haus, mit Glücklitz nicht zu vergleichen, aber immerhin. Zwar quengeln kleine Kinder am frühen Morgen, wenn sie nicht in den Kindergarten gehen wollen, und es scheppert, wenn die Müllabfuhr die Container durch den Hinterhof rollt, doch abends in der Dunkelheit versinkt unser Berliner Haus in vornehme Stille. Man sieht nur die Monitore der Nachbarn hinter den gardinenlosen Fenstern leuchten.
    An meinem planmäßigen Geburtstagstag flüchtete ich aus der Stadt in den Garten. Ab einem bestimmten Alter machen einen die Geburtstage nicht mehr froh. Mich versetzen sie inzwischen in eine nachdenkliche Stimmung, und jedes Jahr staune ich über die ständige Beschleunigung der Zeit. Früher, in der Kindheit,
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