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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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er. Am liebsten würde er wie sein Vater auf dem Schlachtfeld sein Leben lassen, beschwerte er sich bei meinem Vater in unserer Küche. Der Vater des Obersts, ein General, war in den ersten Tagen des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bei der Verteidigung der Grenzen der Sowjetunion gefallen. Der Wunsch des Obersts im Ruhestand, wie sein Vater zu sterben, schien lächerlich. Der Krieg war seit einer Ewigkeit vorbei, die Schlachtfelder von damals längst von Unkraut überwachsen, das Land, dessen Grenzen der General damals mit seinem Blut verteidigt hatte, inzwischen aufgelöst.
    Das hat mein Vater dem Oberst nicht gesagt, nur zugewinkt. Das Krebsleiden des Nachbarn war bereits im fortgeschrittenen Stadium, die Ärzte gaben ihm nur noch neunzig Tage. Aber Ärzte sind keine Propheten, sie irren sich oft, behauptete mein Vater und behielt recht. Der Oberst starb zehn Tage nach diesem Gespräch an einem Herzinfarkt, in seinem Büro, auf seiner Sekretärin Olga Nikolaewna liegend. Die Ärzte hatten ihm also zweieinhalb Monate zu viel versprochen. Mein Vater schüttelte nur den Kopf und sagte, auf die Medizin wär noch nie Verlass gewesen.
    Ein heldenhafter Tod, sagten alle im Institut für Atomforschung. Er habe wie ein richtiger Offizier gelebt und sei wie ein richtiger Offizier gestorben. Ein besseres Ende könne sich keiner wünschen: in Kriegszeiten auf dem Schlachtfeld, in Friedenszeiten auf einer Dame. Ein Held, ein Held, ein echter Mann, flüsterten alle im Institut.
    Ich hielt die Sekretärin Olga Nikolaewna viel eher für eine richtige Heldin. Ich kannte sie nur vom Sehen, ihr Sohn ging in meiner Schule in die Parallelklasse. Olga Nikolaewna war ein leiser, unauffälliger Mensch, bescheiden gekleidet, alleinerziehend. Die Vorstellung, dass diese zierliche Frau auf dem massiven Holztisch unter dem 150 Kilo schweren, toten Chef der Abteilung technische Sicherheit lag, wer weiß wie lange, diese Vorstellung ging mir nicht aus dem Kopf. Olga Nikolaewna nahm das Geschehene zumindest äußerlich ziemlich gelassen, stand während des Begräbnisses neben der Witwe und wirkte etwas abwesend. Die Witwe bestellte später einen schicken großen Grabstein mit eingemauertem Foto des Obersts in Paradeuniform samt Orden und Auszeichnungen, von denen nur der Verstorbene selbst wusste, wofür er sie eigentlich bekommen hatte. Über seinem Foto stand etwas vage formuliert: »1937 geboren. 1996 gegangen. Mit Liebe, Deine Familie, Freunde, Angestellten«, obwohl ich eine klarere Formulierung besser gefunden hätte, zum Beispiel: »1937 geboren. 1996 während der Liebe von Deiner Familie gegangen« oder so etwas Ähnliches.
    Russen mögen ausschweifende Texte auf den Grabsteinen. Deutsche dagegen sind auf ihren Steinen sehr wortkarg. Die Inschriften sehen oft aus wie eine Rechnung: brutto minus Reisekosten gleich netto plus Mehrwertsteuer – alles sehr knapp formuliert. Die Kroaten wiederum mögen Grabsteine generell nicht. Auf der kroatischen Insel, wo wir jeden Sommer Urlaub machen, gibt es nicht einmal einen Friedhof. Die Insulaner haben mehr Bezug zum Meer als zu ihrer steinigen Wüste. Sie wollen alle als Asche auf dem Meer verstreut werden, vorausgesetzt, sie sterben auf natürliche Weise. Das Verwehen der Asche ist eine pathetische Angelegenheit. Ein Trauerschiff wird gemietet, die Verwandtschaft darauf geladen, dazu eine Blaskapelle. Oft muss die Asche monatelang warten, bis sie verstreut wird. Mal ist das gewünschte Schiff besetzt, mal kann die Verwandtschaft nicht, mal sind die Musiker anderweitig beschäftigt, mal kommt Bura, der Nordwind, und sprüht einem die Wellen ins Gesicht. Früher oder später werden aber hier alle zu Asche und auf dem Meer verstreut. Unser Freund Ferdinand erzählte, er habe inzwischen mehr Freunde im Meer als auf festem Boden. Wenn er schwimmen geht, grüßt er nach allen Seiten »hallo, hallo«. Und in jedem Fisch sieht er einen alten Freund.

Der Himmel über Glücklitz
    Die Welt ist groß und bleibt weitgehend von der herangewachsenen Generation unerforscht. Überall versteckt sie ihre Geheimnisse vor gierigen und dummen Menschen. Sie wartet, bis die richtigen kommen, um ihnen ihre Wunder zu offenbaren. Warte kurz ab, Welt, sie kommen!
    Sie wären eigentlich schon längst gekommen, hätten ihre Eltern sich nicht quergestellt. In der zehnten Klasse durfte meine Tochter, rein theoretisch, ein Auslandssemester machen, bei Bedarf sogar ein Auslandsjahr beantragen. Von der Schulleitung wurden
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