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Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)

Titel: Diesseits von Eden: Neues aus dem Garten (German Edition)
Autoren: Wladimir Kaminer
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Marzahn und zurück, Innenspiegel, Außenspiegel, Schulterblick. Sogar im Schlaf träumte ich davon, wie mir als Linksabbieger auf einem Straßenbahngleis plötzlich der Motor absoff. Für alle Fälle fuhren wir eine Runde an der Prüfstelle vorbei.
    »Wenn der Prüfer ins Auto steigt, wird er dich zuerst begrüßen, dann sich vorstellen und erkundigen, ob du Fragen hast. Da musst du ihm bloß eine Frage stellen: ob du nach rechts oder nach links fahren sollst«, erklärte Martin.
    Von der Prüfstelle führte eine Einbahnstraße weg, deswegen musste man sich als Linksabbieger gleich links, als Rechtsabbieger rechts positionieren. Während Martin mich unterrichtete, fuhr eine Linksabbiegerin mit einem Prüfer im Auto direkt auf uns zu. Sie hatte die Spur verwechselt, war nach dem Abbiegen auf der falschen Seite angekommen und in den Gegenverkehr geraten. Nach drei Minuten war ihre Prüfung also schon gelaufen. Ich sah, wie die Frau beinahe weinte, und beschloss, erst einmal Weihnachten und Silvester zu feiern und dann mit neuer Kraft die Fahrlehre fortzusetzen.
    Die langweiligsten deutschen Feiertage begannen wie immer damit, dass alle Geschäfte zumachten und die Straßen menschenleer wurden. Das ganze gesellschaftliche Leben fror ein. Obwohl ich ein Familienmensch bin, mag ich die deutsche Art, Weihnachten zu feiern, nicht. Natürlich ist es ab und zu mal nett, mit der Familie zusammen bei Kerzenlicht am Tisch zu sitzen, doch das soll nicht nach dem Kalender, sondern nach eigener Lust und Laune passieren. Die Deutschen feiern mir Weihnachten zu pedantisch und diszipliniert, auf Befehl quasi. Wie Soldaten hinter den Brustwehren verstecken sie sich zu Hause hinter ihren Gänsebraten. So hatte es Jesus mit seiner Geburt ganz sicher nicht gemeint. Als großer Verfechter der Nächstenliebe, die ebenfalls nicht nach dem Kalender, sondern das ganze Jahr über ausgeübt werden muss, hätte er sich bestimmt gewünscht, dass die Menschen, wenn sie schon seinen Geburtstag feierten, dies laut, lustig und vor allem alle zusammen taten und nicht jeder mit seiner eigenen Gans.
    So dachte ich und kündigte kurzerhand zusammen mit einem Freund eine Lesung und Russendisko am Heiligen Abend in der Berliner Volksbühne an, für Menschen, die weder Familie noch Freunde, vielleicht überhaupt niemanden hatten, mit dem sie Weihnachten verbringen konnten. So schrieben wir es in den Veranstaltungshinweisen, in denen wir Werbung für den Abend machten. Für diese Initiative der Nächstenliebe wurde ich von meiner Frau verflucht. Sie schimpfte, sabotierte die Veranstaltung und meinte, dass ich die eigene Familie gegen wildfremde Menschen eintausche. Außerdem meinte sie, ganz egal wie viel Werbung wir dafür machten, es werde sowieso niemand zu uns in die Volksbühne kommen, weil Weihnachten in Deutschland schon immer ein Zuhause-sitz-Fest gewesen wäre und die Deutschen ihre Gewohnheiten nie freiwillig änderten. Wenn sie einmal etwas beschlossen, zum Beispiel am Heiligen Abend zu Hause zu bleiben, dann blieben sie eben zu Hause, ganz egal was passierte. Selbst wenn ihr Haus in Flammen aufging oder ihnen die Decke auf den Kopf fiel, bewegten sie sich nicht von der Stelle, schon gar nicht gingen sie am Heiligen Abend ins Theater, meinte sie.
    Meine Frau mag des Öfteren recht haben, doch diesmal hatte sie sich geirrt. Auch die Deutschen sind inzwischen nicht mehr das, was sie einmal waren – ihre Treue zur Ordnung hat stark nachgelassen. Zu der Veranstaltung in der Volksbühne kamen so viele Leute, dass das Theater aus allen Nähten platzte. Nicht nur einsame Herzen kamen zu uns, manche Besucher brachten ihre ganzen Familien mit. Ich war so berauscht von diesem Erfolg, dass ich mich fühlte, als würde mir jeder Berg bloß bis zum Knie reichen. Warum also nicht doch noch in diesem Jahr den Führerschein machen – zwischen den Feiertagen?
    Nach Weihnachten schüttete es noch mehr Schnee auf die Straße, obwohl eigentlich gar nichts mehr hineinpasste. Die meisten Autos sahen aus wie Schneeberge, man konnte sich kaum vorstellen, dass sie Räder hatten. Selbst erfahrene Fahrer trauten sich kaum noch ans Steuer. Ob es vielleicht angebracht war, das Schneechaos für eine problemlose Prüfung zu nutzen? Martin meinte, er könne zwar nicht mit Sicherheit behaupten, dass ich die Prüfung bestehen würde, aber es gäbe Hoffnung. Er hatte sogar einen Termin für mich am 30. 12. gefunden, um 8.00 Uhr früh. Ursprünglich hatte der Termin seiner
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