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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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dass es niemandem entgehen konnte, welch glänzende Zukunft ihm bevorstand, und wenn sich aus der Menschenmenge ein Gesicht nach ihm umwandte und ihn mit vieldeutigem Blick musterte, gab er sich so romantisch wie nur möglich und schwebte auf Wolken vorbei, die für einen Vierzehnjährigen noch auf dem Asphalt liegen.
    Wenn er im Bett lag, waren Stimmen vor seinem Fenster zu hören – verschwommene, verklingende, verzaubernde Stimmen –, und bevor er einschlief, träumte er einen seiner liebsten Wachträume: dass er ein großer Stürmer werden würde oder dass er als Auszeichnung für den Kampf bei der japanischen Invasion zum jüngsten General der Welt ernannt werden würde. Immer träumte er, etwas zu werden, nie, etwas zu sein. Auch dies war typisch für Amory.
    Der Kodex des jungen Egoisten
    Bevor er nach Lake Geneva zurückgerufen wurde, war er zum ersten Mal – verlegen, doch innerlich glühend vor Stolz – in langen Hosen erschienen, ausstaffiert mit einer purpurroten Krawatte und einem Belmont-Kragen mit tadellos gestärkten Ecken sowie purpurroten Socken und einem purpurrot gesäumten Taschentuch, das aus seiner Brusttasche lugte. Darüber hinaus aber hatte er seine erste Philosophie formuliert, einen Kodex von Lebensregeln, den man als eine Art aristokratischen Egoismus bezeichnen könnte.
    [33] Ihm war klargeworden, dass sein Hauptinteresse einer gewissen schillernden vielfältigen Persönlichkeit galt, deren Signatur – um keinen Zweifel an ihrer gemeinsamen Vergangenheit aufkommen zu lassen – Amory Blair lautete. Amory bezeichnete sich selbst als einen vom Glück begünstigten jungen Mann mit schier unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten zum Guten wie zum Bösen. Er hielt sich nicht für einen »starken Charakter«, sondern vertraute auf seine leichte Auffassungsgabe (lernt alles ziemlich schnell) und seine überlegenen geistigen Fähigkeiten (liest eine Menge tiefsinniger Bücher). Er war stolz darauf, dass aus ihm niemals ein handwerkliches oder wissenschaftliches Genie werden würde. Keine anderen Gipfel waren ihm versperrt.
    Körperlich: Amory hielt sich für außerordentlich gutaussehend. Zu Recht. Er bildete sich ein, ein vielversprechender Sportler und ein eleganter Tänzer zu sein.
    Gesellschaftlich: In diesem Punkt war seine Stellung wohl am stärksten gefährdet. Er sprach sich Persönlichkeit, Charme, magische Anziehungskraft und Selbstsicherheit zu, die Macht, alle gleichaltrigen jungen Männer zu übertrumpfen, und die Gabe, alle Frauen faszinieren zu können.
    Geistig: Absolute, über jeden Zweifel erhabene Überlegenheit.
    Nun ist es Zeit für ein Geständnis. Amory hatte ein durchaus puritanisch geprägtes Gewissen. Was nicht heißen soll, dass er sich danach richtete – in späteren Jahren tötete er es fast völlig ab –, doch mit fünfzehn bewirkte es, dass er sich für sehr viel verderbter hielt als andere Jungen… Skrupellosigkeit… der Wunsch, andere Menschen in jeder Hinsicht zu beeinflussen, auch zum Bösen… eine gewisse [34] Kälte und ein Mangel an Gefühl, die zuweilen in Grausamkeit ausarteten… ein schwankendes Ehrgefühl… eine unselige Selbstsucht… ein lebhaftes, verstohlenes Interesse an allem, was mit Sex zu tun hatte.
    Doch gab es auch einen seltsamen Zug von Schwäche, der seine Pose durchkreuzte… ein hartes Wort von den Lippen eines älteren Jungen (die älteren verabscheuten ihn meistens) genügte, ihm seine Selbstsicherheit zu rauben und ihn empfindlich zu kränken oder ihn vor Angst völlig zu betäuben… er war der Sklave seiner Launen, und obwohl er zu kühnen und verwegenen Taten fähig war, spürte er, dass er weder Mut noch Ausdauer oder Selbstachtung besaß.
    Eitelkeit, gedämpft durch Selbstzweifel, wenn nicht gar durch Selbsterkenntnis, dazu die Vorstellung, dass Menschen seinem Willen wie Automaten zu folgen hätten, und das Verlangen, so viele Gleichaltrige wie möglich zu »übertrumpfen« und zu einem unbestimmten Gipfel der Welt vorzudringen… mit diesem Hintergrund trat Amory ins Jünglingsalter ein.
    Vorbereitung auf das große Abenteuer
    Der Zug fuhr mit hochsommerlicher Trägheit in Lake Geneva ein, und schon sah Amory seine Mutter, die auf dem kiesbestreuten Bahnhofsvorplatz in ihrem Elektromobil wartete. Es war ein uraltes, graulackiertes Elektromobil, eins der ersten Modelle. Der Anblick ihrer Gestalt, wie sie schlank und aufrecht dasaß, und ihres Gesichts, auf dem Schönheit und Würde zu einem Lächeln verschmolzen, an
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