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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Menschen wie dich nur nervös macht. Clothilde wird dir dein Frühstück heraufbringen lassen.«
    »Ist gut.«
    »Ich fühle mich sehr alt heute, Amory«, seufzte sie dann [14] mit vornehm gedämpfter Stimme und dem Gesichtsausdruck einer kostbaren Kamee; ihre Hände waren feingliedrig wie die von Sarah Bernhardt. »Meine Nerven sind am Ende – einfach am Ende. Morgen reisen wir ab aus diesem trostlosen Nest, irgendwohin, wo die Sonne scheint.«
    Amorys durchdringende grüne Augen schauten durch wirres Haar hindurch auf seine Mutter. Schon in diesem Alter machte er sich keinerlei Illusionen über sie.
    »Amory.«
    »Was ist denn?«
    »Ich möchte, dass du ein kochendheißes Bad nimmst, so heiß, wie du es aushalten kannst, und dich entspannst. Du darfst auch in der Wanne lesen, wenn du möchtest.«
    Sie fütterte ihn mit Abschnitten aus den Fêtes Galantes, noch bevor er zehn Jahre alt war; mit elf konnte er sich gewandt, wenn auch nur anekdotenhaft, über Brahms, Mozart und Beethoven unterhalten. Eines Nachmittags, als er allein im Hotel in Hot Springs geblieben war, kostete er von dem Aprikosenlikör seiner Mutter, und da der Geschmack ihm zusagte, bekam er einen gehörigen Schwips. Das machte ihm eine Weile Spaß, als er aber in seiner Begeisterung auch noch eine Zigarette probierte, fiel er einer höchst vulgären und gemeinen Reaktion seines Körpers zum Opfer. Obwohl der Vorfall Beatrice schockierte, amüsierte er sie doch insgeheim und wurde eine ihrer bevorzugten »Storys«, um den Ausdruck einer späteren Generation zu gebrauchen.
    »Mein lieber Sohn ist wirklich schon sehr reif für sein Alter«, hörte er sie einmal zu einem ganzen Salon voller ehrfürchtig bewundernder Damen sagen, »und recht charmant – aber doch zart – wir alle sind so zart; hier, wissen [15] Sie.« Ihre Hand lag fächerartig auf ihrem schönen Busen; dann senkte sie die Stimme zu einem Flüstern und erzählte die Geschichte vom Aprikosenlikör. Die Damen amüsierten sich köstlich, denn sie war eine glänzende Erzählerin; doch viele Anrichten wurden in dieser Nacht sorgfältig verschlossen, gegen mögliche Übergriffe eines kleinen Bobby oder einer kleinen Barbara…
    Diese Pilgertouren durchs Land hatten die immer gleiche Besetzung: zwei Dienstmädchen, der Privatwaggon, Mr. Blaine, wenn er gerade verfügbar war, und nicht selten ein Arzt. Als Amory an Keuchhusten erkrankte, drängten sich vier Spezialisten um sein Bett und warfen einander giftige Blicke zu; als er Scharlach bekam, waren alles in allem, Ärzte und Krankenschwestern eingerechnet, vierzehn Personen mit seiner Pflege befasst. Doch da Blut dicker ist als Wasser, überstand er auch dies.
    Die Blaines waren nicht mit einer Stadt verbunden. Es genügte, dass sie die Blaines aus Lake Geneva waren, mit einer riesigen Verwandtschaft anstelle von Freunden und einem beneidenswerten Ansehen von Pasadena bis Cape Cod. Doch war Beatrice zunehmend auf immer neue Bekanntschaften erpicht, weil sie bestimmte Geschichten aus ihrem Repertoire, wie die ihrer gesundheitlichen Verfassung und deren ständiger Veränderung oder ihre Erinnerungen an die Jahre im Ausland, in regelmäßigen Abständen erzählen musste, um sie wie freudsche Träume abzuschütteln, bevor sie übermächtig wurden und ihre Nerven zerrütteten. Doch an amerikanischen Frauen hatte Beatrice einiges auszusetzen; besonders an denen aus dem Westen, die ständig von einem Ort zum andern zogen.
    [16] »Sie sprechen mit einem Akzent, Liebling«, sagte sie zu Amory, »der nirgendwo gesprochen wird, nicht im Süden und nicht in Boston, sie sprechen einfach mit Akzent« – sie verfiel in Träumereien. »Alte, mottenzerfressene Londoner Akzente, die ihre besten Tage hinter sich haben und von jemandem aufgegriffen werden müssen. Sie sprechen wie ein englischer Butler, der ein paar Jahre an der Chicagoer Oper zugebracht hat.« Sie verlor ein wenig den Zusammenhang. »Stell dir vor – so ein Augenblick im Leben einer Frau aus dem Westen – sie hat das Gefühl, ihr Mann sei jetzt wohlhabend genug, dass sie mit – Akzent – sprechen darf – und damit versucht sie, mich zu beeindrucken, Liebling…«
    Obwohl sie ihren Körper für eine Ansammlung von Gebrechen hielt, sah sie ihre Seele als ebenso krank an und maß ihr daher große Bedeutung in ihrem Leben zu. Ursprünglich war sie Katholikin; nachdem sie jedoch entdeckt hatte, dass Priester ihr unendlich viel mehr Aufmerksamkeit widmeten, wenn sie gerade dabei war, den
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