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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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hilflos an, als sei sie ein neues Tier, von dessen Vorhandensein auf der Erde er bislang keine Ahnung gehabt hatte.
    Plötzlich öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle erschien Myras Mutter, die an ihrem Lorgnon nestelte.
    »Ah«, sagte sie freundlich und rückte das Lorgnon zurecht, »der Mann am Empfang hat mir gesagt, dass ihr beiden Kinder hier oben seid – wie geht es dir, Amory?« Amory beobachtete Myra und wartete auf den Knall – doch [29] er kam nicht. Der Schmollmund verschwand, die hochrote Färbung verblasste, und Myras Stimme war so friedlich wie ein sommerlicher See, als sie ihrer Mutter antwortete:
    »Ach, wir sind erst so spät losgefahren, Mama, dass ich dachte, wir könnten genausogut…«
    Von unten hörte er kreischendes Gelächter, und als er Mutter und Tochter schweigend nach unten folgte, drang ihm der fade Geruch von heißem Kakao und Teekuchen in die Nase. Viele Mädchenstimmen summten die Melodie mit, die vom Grammophon ertönte, und allmählich breitete sich eine leichte Röte auf seinem Gesicht aus:
    Casey Jones – bestieg die Kabine
    Casey Jones – mit seinen Orden in der Hand.
    Casey Jones – bestieg die Kabine
    Zur letzten Reise ins verheiß’ne Land.
    Schnappschüsse vom jungen Egoisten
    Amory verbrachte fast zwei Jahre in Minneapolis. Im ersten Winter trug er zu seinem graukarierten Wollmantel und der roten Rodelmütze Mokassins, die ursprünglich gelb gewesen waren, nach reichlicher Anwendung von Schmierfett und Schmutz jedoch als endgültige Färbung ein schmutzig-grünliches Braun annahmen. Sein Hund Count del Monte fraß die rote Mütze, und sein Onkel schenkte ihm stattdessen eine graue, die man übers Gesicht ziehen konnte. Das Problem an dieser Mütze war, dass man hineinatmen musste und der Atem darin zu Eis wurde; eines Tages fror das [30] verdammte Ding an seiner Wange fest. Er rieb sie mit Schnee ab, aber sie färbte sich trotzdem bläulichschwarz.
    Count del Monte fraß einmal eine Dose blauer Schuhcreme, ohne Schaden zu nehmen. Später jedoch verlor er den Verstand und fegte wie ein Verrückter die Straße entlang, stieß an Zäune, wälzte sich im Graben und machte sich auf diese exzentrische Weise aus Amorys Leben davon. Amory weinte auf seinem Bett.
    »Armer kleiner Count«, schluchzte er, »mein armer kleiner Count!«
    Einige Monate später hatte er den Verdacht, dass Counts Amoklauf ein feiner Bluff gewesen war.
    Amory und Frog Parker waren überzeugt, dass der großartigste Satz der Weltliteratur im dritten Akt von Arsène Lupin vorkam.
    Jeden Mittwoch und Samstag saßen sie zur Matinee in der ersten Reihe. Der Satz lautete:
    »Wenn man nicht ein großer Künstler oder ein großer Krieger sein kann, ist es das Beste, ein großer Verbrecher zu sein.«
    Amory verliebte sich erneut und schrieb ein Gedicht. Hier ist es:
    Marylyn und Sallie,
    wie lieb ich beide sie,
    doch Marylyn noch mehr
    als Sallie, ja, die lieb ich sehr.
    [31] Ihn bewegte die Frage, ob McGovern aus Minnesota Erster oder Zweiter bei den amerikanischen Meisterschaften werden würde, wie man Karten und Münzen verschwinden ließ und andere Taschenspielertricks, wie Babys auf die Welt kamen und ob Dreifinger-Brown wirklich ein besserer Pitcher war als Christie Mathewson.
    Er las unter anderem: Der Schule zu Ehren, Kleine Frauen (zweimal), Das Bürgerliche Gesetzbuch, Sappho, Der gefährliche Dan McGrew, Die breite Straße (dreimal), Der Untergang des Hauses Usher, Drei Wochen, Mary Ware, The Little Colonel’s Chum, Gunga Dhin, die Polizei-Gazette und Jim-Jam Jems.
    Alle seine Lieblingshelden in der Geschichte bezog er aus Hentys Romanen, und besonders begeistert war er von den liebenswerten Mordgeschichten von Mary Roberts Rineheart.
    Die Schule ruinierte sein Französisch und lehrte ihn, die klassischen Autoren zu verabscheuen. Seine Lehrer hielten ihn für faul, unzuverlässig und nur oberflächlich begabt.
    Er sammelte Haarlocken von vielen Mädchen. Von einigen trug er einen Ring, doch irgendwann bekam er keine Ringe mehr, weil er die nervöse Angewohnheit hatte, auf ihnen herumzubeißen und sie dadurch zu deformieren. Das erweckte offenbar eifersüchtige Verdächtigungen beim nächsten Träger.
    Während der Sommermonate gingen Amory und Frog Parker jede Woche ins Theater. Danach schlenderten sie in der [32] milden Abendluft des Augusts nach Hause; gedankenverloren gingen sie über die Hennepin- und die Nicollet-Avenue, mitten durch das fröhliche Menschengewühl. Amory war überzeugt,
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