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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Minnehaha fahren«, flüsterte er. »Ich will mit dir reden – ich muss mit dir reden.«
    Myra entdeckte die Schlittengesellschaft, stellte sich einen Augenblick lang ihre Mutter vor und – zum Teufel mit den Konventionen – schaute dann in das Augenpaar neben sich.
    »Biegen Sie in diese Seitenstraße, Richard, und fahren Sie direkt zum Minnehaha-Club!«, rief sie durch das Sprechrohr. Amory sank mit einem Seufzer der Erleichterung in die Polster zurück.
    [26] Jetzt kann ich sie küssen, dachte er. Wetten, dass ich’s kann. Wetten, dass ich’s kann!
    Teils war der Himmel über ihnen kristallklar, teils nebelverhangen, und die Nacht war kalt und vibrierte vor Spannung. Vor der Treppe des Country-Clubs strebten die Straßen auseinander, dunkle Kerben in der weißen Decke; große Schneehaufen säumten die Ränder wie Spuren von riesigen Maulwürfen. Sie blieben einen Moment auf den Stufen stehen und betrachteten den weißen Wintermond.
    »So bleiches Mondlicht« – Amory machte eine unbestimmte Geste – »gibt den Menschen etwas Mysteriöses. Du siehst aus wie eine junge Hexe, ohne Hut, mit wirrem Haar« – ihre Hände griffen sofort nach ihren Haaren –, »nein, lass es so, es sieht gut aus.«
    Sie stiegen die Stufen hinauf, und Myra führte ihn in das gemütliche kleine Zimmer, das er sich erträumt hatte, wo vor einer riesigen, tiefen Couch ein behagliches Feuer brannte. Einige Jahre später sollte dies ein wichtiger Schauplatz in Amorys Leben werden, die Wiege so mancher Gefühlskrise. Im Augenblick jedoch sprachen sie über Schlittenpartien.
    »Es gibt immer ein paar verschüchterte Jungs«, bemerkte er, »die ganz hinten auf dem Schlitten sitzen und auf der Lauer sind und heimlichtun und sich gegenseitig runterschubsen. Und dann ist immer irgendein verrücktes schielendes Mädchen dabei« – er spielte es erschreckend gut vor –, »und die kriegt sich immer mit der Anstandsdame in die Haare.«
    »Du bist wirklich ein komischer Junge«, sagte Myra erstaunt.
    [27] »Wie meinst du das?« Amory wandte ihr sofort seine Aufmerksamkeit zu; endlich war er auf vertrautem Grund.
    »Ach – weil du immer über so verrückte Sachen redest. Willst du nicht morgen mit Marylyn und mir Skilaufen gehen?«
    »Bei Tageslicht mag ich Mädchen nicht«, sagte er kurz und fügte hinzu, weil es ihm doch etwas abrupt vorkam: »Aber ich mag dich.« Er räusperte sich. »Ich mag dich am erst- und zweit- und drittliebsten.«
    Myras Augen schauten verträumt. Was würde sie Marylyn nicht alles zu erzählen haben! Sie hier auf der Couch mit diesem phantastisch aussehenden Jungen – das kleine Feuer – sie beide allein in dem großen Haus…
    Myra kapitulierte. Die Atmosphäre war zu überwältigend.
    »Ich mag dich am erst- bis fünfundzwanzigliebsten«, gestand sie mit zitternder Stimme, »und Froggy erst am sechsundzwanzigliebsten.«
    Froggy war innerhalb einer Stunde um fünfundzwanzig Plätze zurückgefallen. Bisher hatte er es noch nicht einmal bemerkt.
    Aber jetzt war Amory am Zug; schnell beugte er sich zu Myra hinüber und küsste sie auf die Wange. Er hatte noch nie ein Mädchen geküsst und schmeckte neugierig seine Lippen, als hätte er von einer neuen Frucht gekostet. Dann streiften sich flüchtig ihre Lippen wie junge wilde Blumen im Wind.
    »Wir sind schlimm«, frohlockte Myra leise. Sie schob ihre Hand in seine, ihr Kopf sank auf seine Schulter. Plötzlich überkamen Amory Ekel, Abscheu und Widerwille [28] gegen den ganzen Vorgang. Er wünschte sehnlichst, weit fort zu sein, Myra nie wiederzusehen, nie wieder jemanden zu küssen; sein Gesicht und ihres, ihre ineinanderverschlungenen Hände standen ihm plötzlich deutlich vor Augen, und er wäre am liebsten aus seinem Körper gekrochen und hätte sich irgendwo versteckt, wo niemand ihn finden konnte – in einem fernen Winkel seiner Seele.
    »Küss mich noch einmal.« Ihre Stimme kam aus einer großen Leere.
    »Ich will nicht«, hörte er sich sagen. Dann herrschte wieder Schweigen.
    »Ich will nicht!«, wiederholte er leidenschaftlich.
    Myra sprang auf, die Wangen rosig glühend vor verletzter Eitelkeit; die große Schleife auf ihrem Hinterkopf zitterte vor Mitgefühl.
    »Ich hasse dich!«, schrie sie. »Wage es ja nicht, je wieder mit mir zu sprechen!«
    »Was?«, stammelte Amory.
    »Ich sag’s Mama, dass du mich geküsst hast! Ja, das tu ich! Ja, das tu ich! Ich sag’s ihr, und dann lässt sie mich nie wieder mit dir spielen!«
    Amory stand auf und starrte sie
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